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Mauricio Kagel
Kagel: Acustica für experimentelle Klangerzeuger und Lautsprecher, für experimentelle Klangerzeuger und Lautsprecher
UE18429
Ausgabeart: Spielpartitur
Sprachen: Deutsch | Englisch
Format: 305 x 232 mm
ISBN: 9783702453169
ISMN: 979-0-008-04112-9
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Beschreibung
Der Titel des Werkes will mehr als schmückende Bezeichnung sein; die musikalischen Vorgänge, die hier stattfinden, wurden von einer nicht gerade schmeichelnden Behandlung des akustischen Materials angeregt. Bereits in der Erfindung der Klangquellen äußert sich einer der Grundgedanken dieser Komposition: einerseits sollten neue Instrumente als selbstverständliche Ergänzung vorhandener Klangerzeuger entstehen, zum anderen mussten akustische Gerätschaften experimenteller Art entwickelt werden, deren Handhabung eine differenzierte musikalische Tätigkeit voraussetzt.
Der Hörer dieses Stückes wird also mit einem Instrumentarium konfrontiert, dessen ungewohnter Anblick die Gefahr nicht ausschließt, dass diese bewusste Erweiterung der Klangskala zunächst als ein Bruch mit dem bereits Bestehenden empfunden wird. Dagegen weisen diese Klangmittel auf die vielen Lücken im Kontinuum unserer Signalproduktion hin, welche noch zu erschließen sind: Instrumente als Symptom von all dem, was bisher unerforscht bleibt.
Nur einige Beispiele:
eine Kastagnetten-Tastatur mit einer Durchmesserskala von 4,5 bis 18 cm, die mittels Gitarrenwirbel in der Anschlagspannung „gestimmt“ werden kann (mit dem Erfolg, dass auch tiefe Kastagnetten bei äußerst schneller Betätigung deutlich klingen); Schwirrholzsätze nach zwei verschiedenen Prinzipien aufgebaut (der eine mit aerodynamischem Profil, der andere mit schlicht primitiven Holzstücken, welche per Hand und Propellergummi angetrieben werden und die sich selbständig ausdehnen und schrumpfen); Nagelgeige, eine Abwandlung des gegen Mitte des 18. Jahrhunderts erfundenen idiophonen Reibspiels, bei der 16 Eisenstifte gleicher Dicke aber verschiedener Länge (zwischen 5,1 und 42 cm; Temperatur: 15. Wurzel aus 8) mit Cello und Kontrabaßbogen gestrichen, transversal zu schwingen beginnen; Rundstabgeige, eine Variante der Nagelgeige (9 Holzstäbe zwischen 9,8 und 90 cm; Temperatur: 8. Wurzel aus 9); zwei Schwingersätze, wie Tastaturen konstruiert, der eine mit 9 Stahllamellen gleicher Länge aber verschiedener Breite, der zweite mit 7 Lamellen unterschiedlicher Länge und gleicher Breite; zwei Paar Scabella, Konkussionssandalen der antiken römischen Chorführer, jedoch mit einem Scharnier in der Mitte der Sohle versehen, damit der Ausführende auch bei minimaler Kraftanwendung hörbare Resultate erzielen kann; Angelbrett (Crepitacolo), eine mit verschiedenen Griffen ausgerüstete Holzplatte, welche je nach Heftigkeit der Bewegung, das Hin- und Herschlagen der Eisenteile antreibt (eine moderne Fassung der Kirchenglocke im Urzustand); eine fünfzungige Ratsche mit gemeinsamer Kurbelwelle, deren Zahnradfrequenz in fünf Stufen abgestimmt ist, so dass die Lautheit des Geräusches durch Veränderung der Zungenanordnung beeinflusst werden kann; Schallplattentonabnehmer und Membranen in mannigfaltigsten Formen (außer den gewöhnlichen), um den Umweg zur höheren Subfidelität zu erkunden: u. a. Plastiktrichter und Mundhöhle, Messerfeder und Ukulele, Sandpapier und Reißzwecknagel, Streichhölzer mit und ohne Schachtel; Querstromlüfter zur Klangfarbenmodulation; Ballons als Resonatoren für Blasinstrumente und als (zurückgewonnener) Luftvorrat bei der Erzeugung oraler Vorgänge inhalierenden Charakters; Pfeifenast, ein ca. 40 m langer dünner Schlauch mit Abzweigungen, an deren Spitzen Orgelmixtur- und Spielzeug(zungen)pfeifen angebracht sind, dessen endlicher Energiestrom aus einer 1 m3 fassenden Pressluftflasche fließt (ein „Aerophon“ zur kollektiven Betätigung, wo nur großzügig handelnde Ausführende mitspielen sollten: zweigt einer der Spieler den Luftstrom nur für sich ab, so verstummen alle anderen unweigerlich); ein Gas-Lötbrenner zur Anregung von Schwingungen in Röhren, bei dem Veränderung der Teiltonfrequenz durch Umbauten erreicht wird; Dämpfer für Blasinstrumente mit eingebautem Lautsprecher, die durch Tonbandwiedergabe von Blastönen eine perfekte Zweistimmigkeit erlauben; Megaphone, ebenfalls mit eingebautem Lautsprecher (ursprünglich ein Vorschlag von mir, damit Protestierende in Situationen, wo die andere Seite aussichtlose Lautstärken anwendet, das kraftsparende Taschentonbandgerät einschalten können); ein Summenlautsprecher (von „Summe“ und „summen“), dessen Membran im Laufe der Aufführung mit verschiedenen Requisiten bearbeitet wird (um endlich das Gerät „Lautsprecher“ auch als „Instrument“ Lautsprecher einzusetzen).
Acustica besteht aus zwei – fast getrennten – Ebenen: die eine wird durch die Wiedergabe eines Vier-Spur-Tonbandes mit endgültig festgelegtem Ablauf gebildet, während die zweite beim Spiel von zwei bis fünf Instrumentalisten entsteht, das in der Zusammenstellung des musikalischen Materials und der Art des Aufeinanderreagierens von Aufführung zu Aufführung verändert werden kann. Die Durchdringung beider Ebenen habe ich absichtlich vermieden, weil ich – auch in Werken von mir selbst mit ähnlicher Problematik – stets den Eindruck hatte, dass die angestrebte Verschmelzung von elektronischer und instrumentaler Musik beim Hören im Saal mehr Wunschdenken als klangliche Wirklichkeit ist. (Dagegen ist diese Verschmelzung ohne weiteres erreichbar, wenn die Summe aus dem Lautsprecher ertönt.)
Die Übertragung von ernster (!) Musik durch symmetrisch aufgestellte Lautsprecher im Raum hat in seltsamer Weise eine wahre, endlich verdiente Demokratisierung des Hörplatzes verhindert: bevorzugt werden jetzt viel weniger Zuhörer als früher, weil die optimalen Sitze für den „kultivierten Hörgenuss“ fast ohne Ausnahme in der Mitte des Saales zu finden sind. Will man dagegen den Weg des diffusen Lautstärke-Terrors nicht einschlagen – jene akustische Gewalt, welche auf Fans immer frontal ausströmt –, weil der Preis für diese befreiende Lautheit noch höher als die schwungvolle Abstumpfung der Gehörnerven erscheint, dann schrumpfen zunächst die Möglichkeiten einer großzügigeren Wiedergabe elektroakustischer Musik auf wenige Lösungen mit durchwegs utopischem Charakter.
Die Hörbarmachung dieser ungelösten Aufgabe war auch ein Thema von Acustica.
Das Vier-Spur-Tonband wurde im Winter 69 im Studio für elektronische Musik des WDR erstellt. Es besteht aus rein elektroakustisch erzeugtem Material sowie Aufnahmen von Instrumental- und Vokalklängen, die nicht den heute üblichen elektronisch gesteuerten Manipulationen unterworfen wurden. Ausgangspunkt dieser Tonbandkomposition war die möglichst homogene Verbindung zweier in der Natur ihrer Produktion unähnlicher Klangkategorien (eine Verbindung, welche mit Verfremdungen der konkreten Aufnahmen durch Filtrierung, Ringmodulation und Veränderung der Tonbandwiedergabe mir zu vereinfacht erschien). Die „Anschaulichkeit“ elektroakustischer Denaturierungsmethoden sollte durch eine physikalisch-technische Entsprechung in der Behandlung von instrumentalen Klangerzeugern und operativer Elektroakustik ersetzt werden.
So versuchte ich – nur theoretisch zunächst, dann pragmatisch – einen Katalog herzustellen von den gängigen bis zu den hoffnungslos verstrickten Schaltungsmöglichkeiten aller im Studio vorhandenen Apparaturen, um mich von jener leisen Ohnmacht zu befreien, die mich jedes Mal überfällt, wenn ich ein Studio für elektronische Musik betrete. Eine „instrumentale Haltung“ dem Gerät gegenüber bringt dieses vielleicht wieder in jene Dimension des Zugänglichen, in der sich etwa Experimentier-Apparaturen der Physikstunde befinden. Die völlige Umfunktionierung der Schaltwand wäre dann das Ziel einer sich selbst produzierenden Forschung acomputischen Charakters, deren Ergebnisse – ähnlich mancher gelungenen Beobachtungen der Naturwissenschaft – nur dem glücklichen Umstand zu verdanken ist, dass der Forscher etwas anderes suchte.
Die Ähnlichkeit zwischen der Prozedur zur Komposition des elektronischen Materials und der Art, wie ich Instrumente und deren interpretative Funktion einsetze, machten also eine mechanische (weil elektrische, aber mit Hand getriebene) Umwandlung der Tonaufnahmen unnötig.
Für seine Mitarbeit bei der Herstellung des elektronischen Teiles danke ich Werner Scholz ganz besonders.
Den instrumentalen Teil des Werkes möchte ich dagegen nicht als abgeschlossen betrachten. Bei der Entstehung habe ich viele andere experimentelle Klangerzeuger entworfen, die ich auch gerne in dieser Komposition verwenden will. Also: 1968 / . . . (sowie drei autonome Fassungen: für Tonband und Instrumentalisten, für Tonband, für Instrumentalisten). Vorläufig wurde die Partitur auf ca. 200 DIN A 5- Karteikarten notiert. Reihenfolge der Karten und Art des Zusammenspiels sind nicht vorgeschrieben, sondern sollen bei den Proben der zwei bis fünf Ausführenden erarbeitet werden.
Die Blätter weisen stets ein Zeichen in der oberen rechten Ecke auf, welches das Hauptinstrument der Karte symbolisiert. Jede Aktion – mit teilweise recht komplexem szenisch/musikalischen Verlauf – ist genauestens notiert. Die Spieler müssen die eingeräumte Freiheit in der Wahl des Zeitpunkts ihrer Mitwirkung durch eine perfekte Beherrschung von Text und Kontext honorieren. Nur so kommt der Ausführende über die bloße Reproduktion seiner Partie hinaus, um einer unzweideutigen Gemeinschaft von Musikern beizutreten, die in ihrer Interpretationsweise das Hören der anderen in ihr Spiel einbeziehen als wären sie Zuhörer ihrer selbst.
Acustica, meine umfangreichste Arbeit der letzten Jahre, ist in memoriam Alfred Feussner geschrieben, meinem so früh verstorbenen Freund.
Mauricio Kagel
Mehr Informationen
Ausgabeart: Spielpartitur
Sprachen: Deutsch | Englisch
Format: 305 x 232 mm
ISBN: 9783702453169
ISMN: 979-0-008-04112-9