

Judit Varga
...alles Fleisch...
Kurz-Instrumentierung: 3 2 3 2 - 4 3 3 0, timp, perc(3), hp, cel, pno, str
Dauer: 17'
Instrumentierungsdetails:
1.Flöte
2.Flöte
3.Flöte (+Picc)
1.Oboe
2.Oboe
1.Klarinette in B
2.Klarinette in B
3.Klarinette in B (+Bkl(B))
1.Fagott
2.Fagott
1.Horn in F
2.Horn in F
3.Horn in F
4.Horn in F
1.Trompete in B
2.Trompete in B
3.Trompete in B
1.Posaune
2.Posaune
3.Posaune
Pauken
Schlagzeug (3 Spieler)
Celesta
Harfe
Klavier
Violine I (14 Spieler)
Violine II (12 Spieler)
Viola (10 Spieler)
Violoncello (10 Spieler)
Kontrabass (6 Spieler)
...alles Fleisch...
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Werkeinführung
Mein Stück …alles Fleisch… wurde 2012 auf Anfrage des Philharmonischen Orchesters Budapest komponiert. Die Uraufführung fand am 10. Oktober 2012 im Italienischen Kulturinstitut in Budapest durch das MÁV-Sinfonieorchester unter der Leitung von László Tihanyi statt. Das Werk ist ein Requiem und gedenkt des Flötisten Zoltán Gyöngyössy, der tragischerweise bei einem Autounfall ums Leben kam.
Das Stück ist im Grunde eine riesige Spirale, die die Periodizität des Lebens, seine ständige Wiederholung und zugleich seine Rückkehr zu sich selbst symbolisiert. Wir hören dasselbe musikalische Material und denselben dramaturgischen Prozess immer wieder, doch niemals auf dieselbe Weise. Die Zeit wird mit jeder Wiederholung kürzer, die Substanz verdichtet sich. Während die erste Periode fünf Minuten dauert, nimmt die zweite nur drei Minuten in Anspruch, und die dritte Wiederholung dauert nur noch eineinhalb Minuten. Schließlich wird der musikalische Prozess so stark komprimiert, dass nur noch die Essenz übrig bleibt – durch nur wenige Schläge wird eine akkordische Konstruktion aus einem sanften Kratzen aufgebaut, die am Ende des Bogens wieder in das gleiche Nichts zurückkehrt.
In dieser Struktur findet sich sowohl eine schenkerianische Denkweise als auch die relative Zeitwahrnehmung des Menschen wieder. Während die Jugend als ereignisreich und endlos erscheint, empfindet ein alternder Mensch – selbst wenn er das Gleiche „erfüllt“ – die Zeit als flüchtig. Doch in dieser monumentalen Variationenreihe ist nicht nur die Verdichtung zu beobachten, sondern auch eine Bereicherung: Eine neue, komplexe musikalische Schicht erscheint als Kontrast zur Grundidee, stürzt jedoch immer wieder am Ende der Periode ins Nichts zurück. Je weiter das Stück fortschreitet, desto umfangreicher und komplexer wird diese musikalische Schicht innerhalb eines Abschnitts aufgebaut – desto stärker ist auch der Zusammenbruch – sowohl in dramaturgischer Hinsicht als auch in der Klangatmosphäre. Der runde und weiche Klang des Tutti-Orchesters wird zunehmend von Geräuschen und Klangeffekten durchbrochen: col legno, gekratzte sul ponticello-Spielweisen, zerlegte Klavier-Repetitionen, Tremoli und völlig zerstörte Tonalität und Intonation durch Glissandi der Streicher.
Das Vergehen ist ein integraler Bestandteil des Lebens – wie bereits der Titel und das Motto des Werks andeuten:
„Denn alles Fleisch ist wie Gras und alle Herrlichkeit der Menschen wie des Grases Blume. Das Gras ist verdorrt und die Blume abgefallen.“
(Johannes Brahms, Ein deutsches Requiem, Nr. 2 / Erster Brief des Apostels Petrus, 1:24)
Der musikalische Prozess ist selbstgesteuert und schreibt sich praktisch selbst: unaufhaltsam und organisch strebt er seinem Ende zu, an dem die Grundidee – die erste fünfminütige Periode – auf die kleinstmögliche noch wahrnehmbare musikalische Einheit schrumpft und dann im Nichts verschwindet. Dieses Ende ist durch den ersten Ton des Stücks vorherbestimmt – so wie die Geburt den Tod vorherbestimmt.
Doch nun soll dies nicht den Schluss des Werks bilden: Nach einem Zitat aus dem oben genannten Requiem von Brahms werde ich die Spirale mit einem scharfen Impuls durchbrechen. Dieser Moment kann als Analogie zu einem Autounfall verstanden werden, da das Ereignis mit filmisch deutlichen Geräuschen dargestellt wird. Man kann dies als Notwendigkeit betrachten, denn eine so aufgestaute und massiv fortschreitende Klangmasse kann nur durch eine andere, mächtige Kraft gestoppt werden.
Das Epilog symbolisiert den Mangel: Das Kammerensemble spielt so leise wie es spielt – die Musik geschieht hier praktisch zwischen den Tönen, in den Pausen. Auch die Instrumentierung ist bewusst gewählt: Die Flöten fehlen natürlich, dafür spielen metallisch klingende Saiteninstrumente und luftige hohe Klarinetten eine ganz typische, chorähnliche Flötenstruktur. Die Tonleiter der Solo-Harfe bewegt sich stetig nach oben, kehrt aber gelegentlich zu sich selbst zurück, wodurch sie praktisch zeitlos, endlos wirkt.
Die Auflösung (und letztlich fast eine Art Absolution) wird durch das Bach-Choralzitat gegeben, das nur auf den ersten Blick fremd und wie ein neues Material erscheint. Doch je länger man den schweren barocken Viertelnoten zuhört, desto klarer wird das retrospektive Erleben: Dieses Bach-Zitat war von Anfang an im Werk präsent und wurde in zahllosen Transformationen bereits gehört, denn diese Akkorde haben die formalen Grenzen markiert und die Musik stets miteinander verbunden.
Als Atheistin ist dies meine Vorstellung von der Kraft, die das Leben eines Gläubigen begleitet.
— Judit Varga