

Wolfgang Rihm
Europa nach dem letzten Regen
Kurz-Instrumentierung: 3 2 3 3 - 4 2 3 1 - Pk, Schl(3), Hf, Klav, Str
Dauer: 48'
Text von: Durs Grünbein
Solisten:
Sopran
Alt
Tenor
Instrumentierungsdetails:
kleine Flöte
1. Flöte
2. Flöte
Oboe
Englischhorn
1. Klarinette in A
2. Klarinette in A
Bassklarinette in B
1. Fagott
2. Fagott
Kontrafagott
1. Horn in F
2. Horn in F
3. Horn in F
4. Horn in F
1. Trompete in C
2. Trompete in C
1. Posaune
2. Posaune
3. Posaune
Tuba
Pauken
1. Schlagzeug
2. Schlagzeug
3. Schlagzeug
Harfe
Klavier
Violine I
Violine II
Viola
Violoncello
Kontrabass
Rihm - Europa nach dem letzten Regen für Sopran, Alt, Tenor und Orchester
Gedruckt/Digital
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Wolfgang Rihm
Rihm: Europa nach dem letzten RegenInstrumentierung: für Sopran, Alt, Tenor und Orchester
Ausgabeart: Dirigierpartitur

Wolfgang Rihm
Rihm: Europa nach dem letzten RegenInstrumentierung: für Sopran, Alt, Tenor und Orchester
Ausgabeart: Studienpartitur (Sonderanfertigung)
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Hörbeispiel
Werkeinführung
Ein Interview mit Wolfgang Rihm zu "Europa nach dem letzten Regen":
Herr Rihm, wie sind Sie auf den Gedichtzyklus "Europa nach dem letzten Regen" von Durs Grünbein gestoßen?
Ich lese seit Jahren alles, was von Durs Grünbein erscheint. Sein Werk ist von Anfang an ausgezeichnet durch eine Leidenschaft zur Form, durch die seine gedankliche Tiefe erst verbindlich zur Sprache kommt. Ich bewundere das sehr; wohl auch, weil mir selbst die bündige Formkraft in der Musik erst durch lange Jahrzehnte heranwachsen musste.
Ich las also in "Nach den Satiren" diese elf Gedichte "Europa nach dem letzten Regen" und wusste sofort, dass ich zu diesen Worten Musik erfinden kann, denn hier zeigt sich die Form nicht als unabweisbar geschlossene Setzung; vielmehr scheint ein offenes vielgestaltetes Angebot an einen antwortenden Gestaltungswillen ausgebreitet: eine Mit-Sprache scheint zulässig.
Was verbindet Sie mit Durs Grünbein? Gibt es stilistische Gemeinsamkeiten zu Grünbeins Schaffen?
Stilistische Gemeinsamkeiten? Das ist schwer abzugrenzen. Sicher bin ich selbst kein Künstler, der vordergründig einen 'Stil' vorlegt. Das, was entsteht, wird später zur Summe seiner stilistischen Potenzen und so sicher einmal von außen als Stil-Sphäre lesbar. Aber das ist für mich niemals der Hauptbeweggrund meiner Arbeit: in einer Stil-Sache dingfest zu werden. Einzelne Vorgehensweisen können vielleicht verglichen werden unter den Künstlern. Bei Durs Grünbein erkenne ich ein Wissen, ein Metier der Geschichte seiner Kunst. Vielleicht könnte ich dieses mit dem meinen vergleichen. Auch knien wir beide nicht gefesselt vor selbstbezogen avantgardistischen Pointen. Aber darin war die Dichtkunst auch nie so kirchlich wie die Musik.
Wie sind Sie an den Text herangegangen? Haben Sie ihn mehr atmosphärisch aufgefasst oder sich durch einzelne Wörter, Bilder etc. anregen lassen?
Ich habe versucht, ein Klanggeschehen zu finden, in welchem die Texte deutlich – aber nicht 'gedeutet' – erscheinen können. Sicher gibt es hie und da Konstellationen, worin ein Textwort das Erklingende orchestriert. Aber die Grundentscheidung war: eine Schönheit der Linienführung durchgängig zu formen, die unterschwellig und an wenigen Stellen ausbrechend vom Klang 'befremdet' wird. Vor allem habe ich vermieden, wenn von Zerstörung die Rede ist, auf die Pauke klopfen zu lassen. Die eindeutig bedrohlichen Augenblicke öffnen sich an den 'falschen Stellen' – als wäre eine nicht allein dem Individuum mehr gehörende erinnernde Substanz wirksam geworden.
Wie ist Ihre Komposition entstanden?
Die Komposition entstand zügig. Allerdings hatte ich schon vor Jahren den Plan gefasst, diese Gedichte zu vertonen, jedoch ohne genaue Vorstellungen von der Besetzung. Als ich nun eingeladen wurde, für die Sächsische Staatskapelle ein Werk zu komponieren, entschied ich mich, von diesen Dichtungen auszugehen. Dabei kam es nach und nach zu den Entscheidungen, den Tenor als erzählendes Subjekt und die zwei Frauenstimmen als 'Erinnerungssubstanz' ineinander wirken zu lassen; ferner: das Werk durchzukomponieren, also nicht in Sätze zu stücken, sowie die Orchesterbesetzung ganz bewusst in 'normalen' Grenzen zu halten. In einer Zwischenphase der Arbeit wollte ich jeder Stimme ein eigenes kleines Orchester beigeben, später waren es einzelne Instrumente (Klavier, Akkordeon, Harfe), die bei den Stimmen postiert hätten werden sollen – das gab ich alles auf, um letztlich zu dem gelangen zu können, was es nun ist.
Weshalb haben Sie sich entschieden, das Werk durchzukomponieren, d.h. auf Pausen zwischen den einzelnen Gedichten zu verzichten?
Das elfmalige Beginnen und Enden hätte das Werk allzusehr zerteilt. Stellen Sie sich vor: jedes Mal Husten, im Sitz zurechtrücken, Programmheftrascheln etc. Außerdem wollte ich ja eine lineare Einheitlichkeit versuchen, also einen melodischen Groß-Verlauf gestalten, der das bewusst Erinnerung referierende Individuelle mit dem geschichtlich Unterbewussten in Spannung setzt. Die Formel des Beginns "Raumlos, Erinnerung …" als ein heraufrufender dichter Spruch, aus einem Wort für Enge und einem für Ausweitung gebildet, wurde mir zu einer Art musikalischen Ritornells – die Formel taucht gelegentlich zwischen den Gedichten auf, manchmal sogar in ihnen, auch am Ende. Wenn Sie so wollen, ist diese Musik nun das zwölfte der Gedichte geworden.
Inwiefern hat sich der spezifische Klang der Staatskapelle auf die Komposition ausgewirkt, mit dem Sie ja seit "Vers une Symphonie fleuve IV“ bereits vertraut sind?
Für dieses wunderbare Orchester zu komponieren, dürfte für jeden Komponisten eine besonders herausfordernde Freude sein. Die warme Klangkraft, die solistische Präsenz – es fängt in einem zu komponieren an, wenn man nur daran denkt.
Das Gespräch führte Tobias Niederschlag.
© Sächsische Staatsoper Dresden, 2003
Ein Interview mit Durs Grünbein zu "Europa nach dem letzten Regen"
Herr Grünbein, Sie sind 1962 in Dresden geboren. Was hat Sie 1996 bewogen, elf Gedichte über die Zerstörung Dresdens im Zweiten Weltkrieg zu schreiben?
Eine natürliche Herzensregung, die zugleich eine der mächtigsten ist: Trauer. Es wäre ein Armutszeugnis für einen gebürtigen Dresdner, wenn er als Dichter nicht eines Tages von diesem Verlust berichten würde. Wenn eine Stadt untergeht, dann reicht ihr Schatten bis weit ins Leben der nächsten Generation hinein. Auch wenn da nur mehr Plattenbauten waren und kaum noch Trümmer (mit Ausnahme der Frauenkirchenruine vielleicht), war meine Kindheit doch voll von den Schilderungen der Bombennacht. Die Zerstörung war Teil der Familienlegende geworden. Die Großmutter lag während des Angriffs im Krankenhaus, ihre beiden Töchter waren bei der Tante untergebracht und überlebten die Nacht im Luftschutzkeller. Und jedes Jahr kommt mit dem 13. Februar der Untergang wieder ins Bewusstsein, die Zerstörung dieser schönsten italienischen Stadt nördlich der Alpen. Es ist eines dieser Lebensthemen, die der Mensch sich nicht aussucht, die als Familiengeschichte immer anwesend sind. Dichten heißt Ernstzunehmen, was im eigenen Radius geschah und geschieht. Und wenn die Geschichte von Familie und Stadt derart eng verflochten sind, gibt es gar keine Wahl. Muss ich betonen, dass Dresden mir mehr bedeutet als jede andere Stadt auf Erden?
Welche Beziehung haben Sie heute noch zu den Texten?
Gedichte sind das einzig Haltbare in meinem Leben. Alles andere wandelt sich, vergeht oder zerfällt. Durch eine gewisse Strenge der Form sind sie ein für allemal von mir und meinen Emotionen distanziert. Sie sind plastisch geworden und stehen jetzt als Wortobjekte da, die mich genauso treffen können wie irgendeinen zufälligen Leser.
Was verbindet Sie mit Wolfgang Rihm?
Wolfgang Rihm ist einer dieser seltenen Komponisten, die lebhaft Anteil nehmen an der Literatur. Auch und gerade an der Gegenwartsliteratur. Er als der Ältere war es, der mir eines Tages einen freundlichen Brief schrieb. Sofort wusste ich: hier ist einer, der hat all deine Sachen gelesen und weiß über jede Wendung im Schreibprozess genau Bescheid. Daraus entstand dann eine langjährige Beziehung, geprägt von Achtung und Neugier. Nennen Sie es Wahlverwandtschaft oder Psychomagnetismus, es ist eine stille, intensive Form der Zwiesprache, wie sie sich nur zwischen Künstlern ergibt, diesen monadisch veranlagten Existenzen. Der eine sitzt in Karlsruhe, der andere in Berlin, man schreibt sich, führt lange Gespräche, es gibt Einladungen zu Premieren, Glückwünsche und gemeinsame Geistesblitze. Ich weiß von Wolfgang Rihm, dass in seinem Werk das Lied eine gewichtige Rolle spielt. Einige meinen, er sei unter den lebenden Komponisten der größte und gewiss der interessanteste Liederkomponist. Insofern ist unsere Begegnung ein Glücksfall, zumindest für mich.
Wenn Sie Kompositionen von Rihm hören, fallen Ihnen dann Gemeinsamkeiten auf?
Eine schwierige Frage. Sagen wir so: Im heutigen Musikleben ist Wolfgang Rihm der ideale Gesprächspartner für einen wie mich. Eine Gemeinsamkeit liegt darin, dass unsere Arbeit jenseits der Moderne-Blockade anfing. Wir sind nicht blockiert von irgendeinem Traditionsverbot. Für uns beide gilt, dass es sozusagen den gesamten Ausdrucksschatz der letzten paar hundert Jahre zu heben und fortzuentwickeln gilt. Es gibt da kein Tabu mehr, aber natürlich auch kein blindes oder naives Agieren. Für ihn ist das Element des Spontanen, des Gestischen im Kompositorischen sehr wichtig, während ich mit den Jahren viel mehr Wert gelegt habe auf die Balance in der Form. Aber ich würde sagen: In den Mikrostrukturen gibt es sicher Unterschiede der Temperamente, bei einer wiederum eher wahlverwandten Art, das Produzierte zu analysieren. Ich glaube, wir neigen beide dazu, uns heftiger Selbstkritik zu unterwerfen.
Standen Sie während der Komposition in Kontakt mit Rihm? Haben Sie das Werk in irgendeiner Weise direkt beeinflusst?
Nein, es war ein völlig autarkes Herangehen von Seiten Wolfgang Rihms. Es gab hie und da Fragen zu einzelnen Textpassagen in einem ansonsten unabhängigen Arbeitsprozess. Es geht um etwas, das man am einfachsten mit dem Wort Ur-Vertrauen umschreiben könnte … Ich glaube nicht, dass ich da hermeneutisch sehr viel nachhelfen müsste. Die Gedichte sind durch und durch transparent, hier und da gibt es eine persönliche Anspielung, ein Zitatfragment, die eine oder andere heiße Spur in die Literaturgeschichte. So taucht etwa ein Tiger auf und der Name William Blake fällt. Hier wird einerseits angespielt auf den berühmten Zirkus Sarrasani, der damals an den Elbwiesen kampierte und beim Angriff in Brand geriet. Andererseits spukt durch den Vers auch Blake, sein Gedicht The Tyger, eine visionäre Schreckensphantasie, die mit den Zeilen beginnt: "Tyger, Tyger, burning bright. / In the forests of the night". Marcel Proust spielt eine gewisse Rolle, seine Idee von der 'mémoire involontaire', der unwillkürlichen Erinnerung, mit der die reine Gegenwart aufbricht. Oder der Titel selbst, der auf Gemälde des Surrealisten Max Ernst verweist. Und in den Ortsanspielungen sind förmlich die Kontinente verschränkt. Die Tabak-Moschee ruft Islamabad herauf, nachts die Geisterstadt die Ruinen von Angkor Vat. Es geht in dem Zyklus Europa nach dem letzten Regen um das Ortlos-Werden von Erinnerung und Erfahrung. Darum, dass die zerstörerische Geschichte des 20. Jahrhunderts einen des Ortssinns beraubt hat. Das klingt im ersten Gedicht bereits an und zieht sich als Leitmotiv durch sämtliche Teile. Zugleich geht es, in einer Gegenbewegung, darum, die Erinnerung an diesen Ort Dresden zurückzugewinnen, aus der räumlichen und zeitlichen Ferne. Dresden ist, genau wie Guernica, Coventry, Hamburg oder Rotterdam eine dieser archetypischen Städte, die im Zweiten Weltkrieg ihr Gesicht verlieren. Dresden war einer der Scheiterhaufen, auf dem die alteuropäische Kultur verbrannte. Es hat seinen Preis bezahlt für das 'Abenteuer' des Dritten Reiches und eines Großteils der deutschen Bevölkerung damals. Mein Gedicht ist eine Art Requiem, eine sarkastische Elegie auf das Verschwinden einer grandiosen Barockmetropole.
Das Gespräch führte Tobias Niederschlag.
© Sächsische Staatsoper Dresden, 2003