

Leoš Janáček
Jenufa
Kurz-Instrumentierung: 3 3 3 3 - 4 3 3 1 - Pk, Schl, Hf, Str; Bühnenmusik: Xyl, Hr(2), Zvonky, Str(1 1 1 1 1)
Dauer: 120'
Herausgeber: Mark Audus
Übersetzer: Edward Downes, Otakar Kraus, Max Brod
Libretto von: Gabriela Preissová
Widmung: im Angedenken an Olga Janácková
Chor: SATTBB - Dorfvolk, Rekruten, Musikanten, Gesinde, Dorfmädchen
Rollen:
Die alte Buryja
Alt
Die Küsterin Buryja
Sopran
Jenufa
Sopran
Laca Klemen
Tenor
Stewa Buryja
Tenor
Altgesell
Bariton
Dorfrichter
Bass
Seine Frau
Mezzosopran
Karolka
Mezzosopran
Schäferin
Mezzosopran
Barena
Sopran
Jano
Sopran
Tante
Alt
Instrumentierungsdetails:
kleine Flöte
1. Flöte
2. Flöte
1. Oboe
2. Oboe
Englischhorn
1. Klarinette in B (+Kl(A))
2. Klarinette in B (+Kl(A))
Bassklarinette in B
1. Fagott
2. Fagott
Kontrafagott (ad lib.)
1. Horn in F
2. Horn in F
3. Horn in F
4. Horn in F
1. Trompete in F (+Trp(C) +Trp(E))
2. Trompete in F (+Trp(C) +Trp(E))
3. Trompete in F (ad lib) (+Trp(C) +Trp(E))
1. Posaune
2. Posaune
3. Posaune
Tuba
Pauken
Schlagzeug
Harfe
Violine I
Violine II
Viola
Violoncello
Kontrabass
Bühnenmusik: Xylophon
1. Horn in F
2. Horn in F
Zvonky
Violine I(1)
Violine II(1)
Viola(1)
Violoncello(1)
Kontrabass(1)
Janácek - Jenufa
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Werkeinführung
Durch das Abtragen zahlreicher Schichten von Änderungen, die Janáček selbst und andere vorgenommen hatten, ist es gelungen, jene Wirkung zugänglich zu machen, die dieser Dauerbrenner in der Publikumsgunst in den Anfangstagen auf das Publikum hatte.
Die Wirkung der sinistren Ballade von Gabriela Preissová, in der Motive vom „verlassenen Mägdlein“, von Bruderhass und Kindsmord, gesteuert durch die drückenden moralischen Normen einer bäuerlichen Dorfgemeinschaft, verschränkt werden, war nicht so sehr Sache der Schauspielvorlage, sondern erhielt erst Profil durch Janáčeks unerschütterlichen Glauben an die Macht der Musik. Es scheint sogar, dass Janáčeks musikalische Aufrichtigkeit das Volksstück überhaupt erst in den Rang einer ergreifenden Tragödie erhoben hat.
Charakteristischer Musikstil
Leoš Janáčeks Oper Jenůfa, die zu seinen beliebtesten und meistaufgeführten Werken zählt, legte den Grundstein für seinen Durchbruch und langfristigen Erfolg. Heute ist das Werk meist in der „Brünner Fassung von 1908“ zu hören, die das Resultat einer Reihe von Überarbeitungen ist, die der Komponist selbst zwischen 1906 und 1913 an der Oper vornahm.
Sehen Sie unser Interview mit Mark Audus über die Originalfassung von Jenůfa (1904)
Aus der Zeit der ursprünglichen Premiere des Werks im Jahr 1904 existieren etliche Reminiszenzen, Berichte und Anekdoten. Diese Schilderungen halfen dabei, einige der Themen – wie Janáčeks Gebrauch von Volksmusik und “Sprachmelodien”, die uns auch heute noch an diesem Komponisten faszinieren – in unserem Gedächtnis zu verankern. Die genaue Form, in der Jenůfa uraufgeführt wurde und die zum ersten Mal Janáčeks charakteristischen musikalischen Stil und seine künstlerische Vision zum Ausdruck brachte, blieb jedoch lange Zeit ein Rätsel.
Nachdem die vielen Überarbeitungen, die Janáček und andere vornahmen, Schicht für Schicht wieder abgetragen wurden, können wir endlich etwas von jener Wirkung erfahren, die dieses Meisterwerk in den frühen Jahren seiner Aufführungsgeschichte auf das Publikum ausübte.
Ursprünglich mit den bescheidenen Mitteln des Nationaltheaters Brünn aufgeführt, ist die Fassung von 1904 für Produktionen in kleinen und mittelgroßen Theatern, aber auch in größeren Opernhäusern ideal.
Obwohl das Libretto der Oper im Wesentlichen unverändert bleibt und der Großteil der Musik klar wiedererkennbar ist, werden faszinierende Unterschiede enthüllt. Die stimmlichen Ansprüche an die vier Hauptrollen haben sich gesteigert, und die Orchestrierung erinnert stärker an das späte 19. Jahrhundert. Einige Passagen, wie etwa das Ensemble im ersten Akt, das in der Fassung von 1904 an das traditionelle pezzo concertato einer italienischen Oper erinnert, wurden stark gekürzt. Auch Lacas Liebeserklärung an Jenůfa nahe dem Ende des zweiten Akts ist in der Originalfassung von 1904 umfangreicher angelegt. Sie wurde von Janáček in späteren Überarbeitungen nachträglich auf eine Handvoll Takte gekürzt. Das sind nur zwei herausstechende Beispiele aus einer Fassung voller Überraschungen: Janáčeks eigene Überarbeitungen ließ keine Seite der Partitur – vom eröffnenden Xylophone-Solo bis zu den herrlichen Schlusstakten – unberührt.
Die Jenůfa-Fassung von 1904 bildet die Grundlage für alle Aufführungen des Werks in den ersten beiden Jahren seiner Aufführungsgeschichte. Als solche füllt sie eine wichtige Lücke in unserem Verständnis eines der größten Protagonisten der Oper des 20. Jahrhunderts, die über rein musikwissenschaftliches Interesse hinausgeht. Sie erlaubt dem Publikum einmal mehr, den Reiz des Neuen und die Erbarmungslosigkeit der Emotion zu erleben, die dieses Werk viel näher in den Kontext des Verismo der Jahrhundertwende rückt. Sie gestattet uns auch zum ersten Mal einen Blick in das jugendliche Gesicht eines geliebten Freundes.
Mark Audus
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Dieser Artikel wurde in Musikblätter 3 veröffentlicht.
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Janáčeks dritte Oper, im nicht-tschechischsprachigen Raum unter dem Namen Jenůfa bekannt, basiert auf dem Schauspiel Její pastorkyňa [Ihre Stieftochter] von Gabriela Preissová (1862-1946). Preissovás „Erzählung aus dem Mährischen Volksleben" wurde am 9. November 1890 am Nationaltheater in Prag uraufgeführt. Im nächsten Jahr folgten eine Neuinszenierung in Brünn (10. Januar 1891) und die Veröffentlichung durch den Verlag Fr. Šimáček. Janáček stand mit Preissová bereits in Verbindung. Sie war die Autorin jener Kurzgeschichte, auf der seine zweite Oper Počátek románu [Der Beginn einer Romanze], 1891, basierte. Er scheint sie um ihre Zustimmung gebeten zu haben, das Stück noch vor dessen Brünner Inszenierung 1894 zu vertonen. Preissová erinnerte sich 50 Jahre später in einer biographischen Notiz, wie „der hochbegabte, jähzornige Mähre Leoš Janáček sich an mich wendete. Er sagte, er hätte sich in Jenůfa verliebt und bereits jetzt wären ganze Textpassagen durch seinen Kopf geschossen, die er sofort in Musik setzte. Er müsse nichts in Verse fassen, die Wörter und Sätze sprächen in ihrer eigenen Musik, die mit der seinen völlig übereinstimme. Wir kamen zu einer glücklichen Einigung." Tatsächlich jedoch versuchte Preissová zunächst, Janáček abzuhalten: „Ich denke, dass der Stoff von P[astorkyna, d. h. Jenůfa] nicht für eine musikalische Umsetzung geeignet ist – aber vielleicht finden wir zu gegebener Zeit etwas Passenderes" (Preissová an Janáček am 6. November 1893). Janáček allerdings war von seiner Wahl nicht abzubringen und begann bald, wie Preissová berichtet, „die Handlung von Jenůfa mit leidenschaftlichem Eifer auszuschmücken. Er studierte die Rufe der jungen Männer bei ihren Volkstänzen, er ging hinaus zur Mühle, wo er den Geräuschen des Drehens und dem Rumpeln des Mühlrades zuhörte und es dann zu Papier brachte."
Da Janáčeks Briefe an Preissová verlorengegangen sind, ist es schwierig, den Ursprung von Janáčeks Anziehung zu dem Stück zu dokumentieren. Ebenso verhält es sich mit der tatsächlichen Komposition. Janáček versah seine Autografe für gewöhnlich mit einem Datum, aber in diesem Fall vernichtete er das Original. Um eine Stellungnahme gebeten, schrieb Janáček folgendes in einem Brief an Otakar Nebuška am 22. Februar 1917:
Alles, was dem alten Manuskript über die Anfänge von Jenůfa zu entnehmen war, ist folgendes:
1. Mein Kopist Josef Štross (zu seiner Zeit ein exzellenter Oboist am Prager Konservatorium unter der Leitung von D. Weber [Friedrich Dionys Weber], notierte nur, wann er den 1. Akt des Klavierauszuges beendete; das radierte ich später aus. Ich weiß nicht, warum.
2. Der 2. Akt des Klavierauszuges wurde am 8. Juli 1902 (vom Kopisten) fertiggestellt.
3. Den 3. Akt des Klavierauszuges beschloss er mit den Worten „Ende der Oper", 25. Januar 1903, 15.30 Uhr.
Es sollte beachtet werden, dass ich zuerst die Partitur erstelle und dann den Klavierauszug davon mache; deshalb wurde die Arbeit an der Partitur früher beendet. Zwischen dem 1. und dem 2. Akt lag eine lange Pause. In dieser Zeit arbeitete ich mit Fr[antišek] Barto an Volksliedern, die von der Tschechischen Akademie veröffentlicht wurden.
Mein Hausmädchen erinnert sich, dass ich, in ihrem zweiten Jahr bei uns, mit dem Komponieren der J. P [Jenůfa] begann, d. h. 1896. Von da an war das Komponieren für mich nur eine Nebenbeschäftigung: als Chorleiter und Organist, kaiserlich-königlicher Musiklehrer an der Lehrerbildungsanstalt, Direktor der Orgelschule, Dirigent der Philharmonischen Konzerte in der Beseda – dabei noch eine sterbenskranke Tochter zu Hause – und das [Alltags-]Leben. Kurz gesagt war es schwierig zu komponieren und deshalb wurde auch wenig getan. Daher ist es auch nicht einfach für mich, mich daran zu erinnern.
Es könnte ein Datum irgendwo in meiner Abschrift der ersten Partitur versteckt sein; ich habe sie nicht bei der Hand. Ich besitze das [Original-]Manuskript der Partitur nicht.
Das Hausmädchen, Marie Stejskalová (1873-1968), war Zeugin der Komposition, wie Janáček selbst berichtet. In ihren Memoiren erinnert sie sich:
Als ich zu den Janáčeks kam [um dort zu arbeiten], begann der Meister Jenůfa zu schreiben. [...] Selten hatte er tagsüber Zeit dafür, doch er opferte all seine freien Abende dafür. Er blieb kaum einmal länger aus, als er unbedingt musste: zu Konzerten, ins Theater, in den Lesezirkel, in die Alte Brünner Beseda – er trieb sich niemals herum, und während andere schlafen gingen, wenn sie nach Hause kamen, setzte er sich an seine Arbeit. Am Morgen brachte ich eine Lampe in sein Studierzimmer, bis an den Rand gefüllt mit Paraffin, am nächsten Tag nahm ich sie leer wieder mit. Die Herrin pflegte darauf zu schauen: „Hat er wieder die ganze Nacht geschrieben." Heute finde ich es seltsam, dass die ganze Jenůfa im Schein einer Paraffin-Lampe geschrieben wurde.
Manchmal schien es mir, als würde der Meister mit Jenůfa ringen, als würde er ins Studierzimmer gehen, nicht um zu komponieren, sondern um zu kämpfen. Er erhob sich vom Abendessen, stand da, dachte einen Moment nach und seufzte, mehr zu sich selbst: „Gott, der Herr, und die Jungfrau Maria, helft mir!" [...]
In diesen glücklichen Tagen, als wir noch alle zusammen waren, sprach der Meister oft von Jenůfa: woran er gerade arbeitete, wie er sich vorstellte, dass es weitergehen könnte und ob die Arbeit gut voranging oder nicht. Er redete mit solcher Leidenschaft, dass er uns alle davon überzeugte, was für ein großes Werk es werden würde. Wir waren mucksmäuschenstill, wenn er auf dem Klavier spielte, was er gerade geschrieben hatte. Oft schlichen wir auf Zehenspitzen an seine Zimmertür, um alle drei daran zu horchen. Die kleine Olga hätte niemals Albernheiten gemacht, sie hätte nicht einmal laut gelacht, wenn ihr Vater arbeitete.
Dieser Bericht kann durch Daten in Janáčeks Partiturabschrift ergänzt und in gewissem Ausmaß auch korrigiert (Ende des 1. Aktes: 18. März 1894; Ende des 2. Aktes: 17. Januar 1895; Ende des 3. Aktes: 11. Februar 1895), sowie durch kurze Bemerkungen in seiner Korrespondenz vervollständigt werden. Ein wichtiges Datum ist der 31. Dezember 1894, als Janáček das Vorspiel fertigstellte, wie auf der letzten Seite seines Exemplares von Její pastorkyňa vermerkt ist. Dieses war ursprünglich als Ouverture zu Jenůfa geplant. Eine Anmerkung am Beginn des 2. Aktes ist von besonderem Interesse: „Instrumentierung begonnen am 16. Februar 1895". Janáček hatte bei seinen ersten beiden Opern zunächst ein Klavierparticell erarbeitet, welches er dann orchestrierte. Bei Jenůfa ist Janáčeks Aussage verbürgt (in seinem Brief an Nebuška), dass er von Anfang an eine Orchesterpartitur schrieb – seine übliche Vorgangsweise bei allen nachfolgenden Opern. Es dürften jedoch zumindest Teile der Musik in einer Rohfassung auf einem zweizeiligen Notensystem entworfen worden sein, wie er es etwa auch bei seiner späteren, unveröffentlichten Oper Panímincmistrová [Die Frau des Münzmeisters], 1906-1907, tat. Eine einzige Seite mit entzifferbaren Fragmenten der 2. Szene des 1. Aktes blieb erhalten, was nahelegt, dass Janáček Skizzen dieser Art niederschrieb. Wahrscheinlich beendete er sie an jenen Tagen, deren Datum er am Ende jedes Aktes notierte. Dieser Abschnitt wäre somit am 11. Februar 1895 fertiggestellt worden (einschließlich einer vollständigen Fassung der Ouverture), und wenige Tage später, am 16. Februar 1895, begann Janáček mit der Feinarbeit. Dies scheint in Widerspruch zur Aussage Janáčeks zu stehen: „Mein Hausmädchen erinnert sich, dass ich, in ihrem zweiten Jahr bei uns, mit dem Komponieren der J. P. begann; d. h. 1896." Aber Janáček irrte beim Eintrittsdatum von Marie Stejskalová: sie trat am 27. August 1894 ihren Dienst bei den Janáčeks an, so dass ihr zweites Dienstjahr 1895 gewesen sein muss.
Aus dem eingangs wiedergegebenen Brief Janáčeks an Nebuška geht hervor, dass zwischen 1. und 2. Akt eine „lange Pause" lag. Man weiß allerdings nicht, wann diese Pause begann und somit der 1. Akt zumindest in einem vorläufigen Stadium abgeschlossen war. Ab 1896 war Janáček in seiner Zeit zum Komponieren – außer durch seine zahlreichen Lehrverpflichtungen – noch durch andere wichtige Aufgaben eingeschränkt. Er selbst spricht von seiner Arbeit mit Bartoš an der Volksliedsammlung Národní písně moravské v nově nasbírané [Neue Sammlung mährische Volkslieder], JW XIII/3. Die Korrekturfahnen trafen zwar erst im September 1898 ein, aber so ein großes Unterfangen (es handelt sich immerhin um einen Band mit 1200 Seiten) erforderte zuvor schon jahrelanges Sammeln und systematisches Zusammenstellen. Ferner arbeitete Janáček an den Korrekturen seiner Harmonielehre O skladbě souzvukův a jejich spojův [Über die Zusammensetzung der Akkorde und ihrer Verbindungen], JW XV/151, die er am 21. März 1896 weitgehend abschließen konnte. Schließlich begann er im Sommer 1896 mit einer großangelegten Komposition, der Kantate Amarus, sodass die Arbeit an Jenůfa offensichtlich auch schon zuvor zumindest zeitweise in den Hintergrund getreten sein muss. Ein psychologischer Wendepunkt kann überdies in der Brünner Premiere von Tschaikowskis Pique Dame am 16. Januar 1896 gesehen werden.
Der 1. Akt von Jenůfa enthält noch Elemente einer Nummernoper, wenngleich diese im Zuge der Revision von 1906-1907 reduziert wurden: Arien, Duette, ein Terzett, Chöre und sogar ein „largo concertato" – eine Menge Opernkonventionen in der Art wie in Cavalleria rusticana. Janáček war von der Erstaufführung der Oper Mascagnis in Brünn 1891 sehr eingenommen und schrieb in Moravské listy (JW XV/137) eine ausführliche, enthusiastische Kritik. Die „zerstörerische Leidenschaft" in den Begegnungen zwischen Lola, Turiddu und Santuzza scheint ihn besonders beschäftigt zu haben; möglicherweise zog ihn die ähnliche, von Eifersucht geprägte Dreiecksbeziehung zwischen Jenůfa, Laca und Števa in Preissovás Stück deshalb so an. Auch die volkstümlichen Szenen darin beeinflussten Janáček, und so lag es nahe, dass ihm sein früheres Stück Zelené sem sela [Ich habe Grünes gesät], JW III/3, ein
Arrangement für Chor und Orchester, als Basis für die Rekrutenszene dienen konnte, ähnlich wie er in seiner vorangegangenen Oper, Počátek Románu [Der Beginn einer Romanze], volkstümliche Elemente verarbeitet hatte.
Bis dahin hatte die Komposition der Jenůfa keine besonderen Anforderungen an Janáčeks Erfindungsgabe gestellt. Anders war die Lage im 2. Akt, einer intensiven, in sich geschlossenen Situation, ohne Chor und mit nur vier handelnde Personen. Hier bot Tschaikowskis Oper neue Lösungen an. Auch über Pique Dame liegt eine ausführliche und begeisterte Kritik aus Janáčeks Feder vor (JW XV/149), welcher schon allein durch den Umstand, dass er damals bereits nicht mehr als Kritiker arbeitete, besondere Bedeutung zukommt. Seine Begeisterung entzündet sich an der Szene zwischen Hermann und der Gräfin, die er folgendermaßen beschreibt: „Abgehackt, bruchstückhaft, ohne große Linien. Das Orchester lässt nur wahllos schneidende Töne in alle Richtungen los. Und doch verwebt der hochentwickelte musikalische Genius des Komponisten all diese kleinsten Partikel zu einer so wunderbaren Einheit – mit einer in der Musikliteratur nur ganz selten errreichten überwältigenden Wirkung." Eine Opernszene zu entwerfen, indem – wie Janáček es ausdrückt – auf die „großen Linien" verzichtet und alles stattdessen mit „kleinsten Partikeln" vom Orchester aus gestaltet wird, diese neuartige Methode wies ihm schließlich den Weg als Opernkomponist. Im 1. Akt von Jenůfa entwickelt sich die musikalische Dramaturgie langsam (meist singen die Personen eher ganze melodische Textabschnitte und nicht nur einzelne Sätze), und wer sich nicht bewusst ist, dass Janáček hier Prosa vertont, mag darüber verwundert sein angesichts der bis ins Detail strukturierten Bauweise der melodischen Linien. Um dies zu erreichen, musste er den Prosatext Preissovás weitgehend umarbeiten, um zu einer Quasi-Versform zu gelangen, damit regelmäßig strukturierte Textzeilen zur regelmäßigen Struktur der Musik passten. Sobald er, wie im 2. Akt, die musikalischen Faktur vom Orchester ausgehen ließ, war diese Art der Umarbeitung von Preissovás Text nicht mehr notwendig.
Ein so radikales Umdenken in seinem Opernstil ging nicht leicht vonstatten. Es ist signifikant, dass Janáček nach der Begegnung mit Tschaikowskis Oper im Januar 1896 Jenůfa erst einmal liegen ließ und ein paar Monate später die neuen Techniken in einem kleineren Werk (für ähnliche Besetzung mit Orchester, Chor und Solisten) erprobte – seiner Kantate Amarus. Der Versuch scheint gelungen zu sein: Amarus ist das erste größere vollendete Werk Janáčeks, das bereits Anklänge an den reifen Stil des Komponisten aufweist, wobei vor allem eine neue Balance zwischen orchestralen Motiven und den
Gesangslinien aufhorchen lässt. Vielleicht war es auch die Neuheit des Stils, der in dazu bewog, das Werk seinem Freund und Mentor Antonín Dvořák zur Begutachtung zu schicken – es war das erste Stück, das er ihm nach acht Jahren wieder vorlegte. Als Janáček ihm einen Kommentar entlockte, hatte Dvořák eine maßgebliche Anmerkung zu machen: „Das Stück ist besonders in harmonischer Hinsicht interessant, nur würde ich mir mehr Melodie wünschen und dann noch vielleicht etwas genauere Deklamation." (Dvořák an Janáček, 21. Mai 1897)
„Genaue Deklamation" und „Melodie" verschmolzen alsbald auffallend in Janáčeks kreativem Rüstzeug, als er nämlich einige Monate später während seines Sommeraufenthalts in Hukvaldy im August und September 1897 begann, systematisch in sein Notizbuch einzutragen, was er selbst später „Sprachmelodien" nannte. Es waren dies Fragmente von zufällig aufgegriffenen Alltagsphrasen in ganz einfacher musikalischer Notation (Rhythmus und ungefähre Tonhöhe sind angegeben), oftmals mit Bemerkungen über Tageszeit, äußere Umstände, dahinterstehende Gefühle usw. Anders als Dvořák und Smetana, die in ihren Opern auf „korrekte" tschechische Deklamation bedacht waren, entwickelte Janáček sein eigenes Modell der Deklamation in regelrechter Feldarbeit – auf ganz ähnliche Weise wie die mährischen Volkslieder, die er zuvor gesammelt und studiert hatte, seinen kompositorischen Stil geprägt hatten. Die von ihm aufgezeichneten und erforschten Sprachmelodien stammen durchwegs aus Mähren, und so konnte er mit Recht behaupten – zumindest solange ihm dies zum Vorteil gereichte – dass die Kompositionen jener Zeit, also auch Jenůfa , nachdem er sie wieder aufgenommen hatte, „mährisch" waren. Seitdem waren die Sprachmelodien sein vorherrschendes Thema und wurden zum Gegenstand zahlreicher Artikel, die er bis zu seinem Tod verfasste. Im Fall der Jenůfa ermöglichte ihm diese neue Auffassung von Gesangslinien, auf Leitmotive als einigendes Moment zu verzichten und später zu behaupten, dass in der Oper überhaupt keine Leitmotive vorkämen.
Die Entdeckung der Sprachmelodien und des von Tschaikowski hergeleiteten Modells einer orchestral konzipierten Oper fallen in den Beginn von Janáčeks fünfjähriger Kompositionspause an Jenůfa. Der 1. Akt war noch ohne diese neuen Einsichten entstanden. Bei Amarus sowie anderen kleineren Werken erprobte er deren Umsetzung in seinem musikalischen und opernhaften Stil, und als er 1901 zu Jenůfa zurückkehrte, war er ein grundlegend anderer Komponist geworden.
Der erste Hinweis, dass seine Gedanken sich wieder der Oper zuwandten, findet sich auf einem Briefumschlag, den seine Tochter Olga am 30. Dezember 1901 an ihn nach Hukvaldy sandte und auf welchem er eine Gesangsstimme zu Textstellen aus der dritten Szene des 2. Aktes notierte. Dies wird in einem Brief an Olga (17. April 1902) durch eine kurze Anspielung auf seine Arbeit erhärtet: „Ich arbeite sehr fleißig daran, den 2. Akt vor den [Sommer-] Ferien abzuschließen."
Aber als Janáček sich wieder der Oper zuwandte, wurde die Komposition durch die größte persönliche Tragödie in seinem Leben überschattet. Am 22. März 1902 begleitete Janáček sein einziges überlebendes Kind, Olga, nach St. Petersburg. Sein Bruder František hatte sich dort niedergelassen und geheiratet. Nun hatte er seine Nichte eingeladen, ein halbes Jahr in St. Petersburg zu verbringen, um ihr Russisch zu verbessern. Schon seit früher Kindheit hatte Olga gesundheitliche Probleme, was dazu führte, dass sie ihre Arbeit als Lehrerin nicht fortsetzen konnte, den traditionellen Beruf in der Familie Janáček. Es gab aber auch noch einen anderen Grund, sie nach Russland zu schicken. Nun, da sie auf die Zwanzig zuging und auffallend hübsch und lebenslustig war, hatte sie auch verschiedene Verehrer. Janáček hielt den neuesten unter ihnen für besonders unpassend und hatte ihr den weiteren Umgang mit ihm untersagt. Als der junge Mann sich rächen wollte, indem er androhte, sie zu ermorden, schien es angeraten, Olga für eine Weile aus der Stadt zu bringen.
So ließ Janáček seine Tochter in St. Petersburg und kehrte in seinen Arbeitsalltag zurück, als Lehrer an der Lehrerbildungsanstalt und an der Brünner Orgelschule. In der wenigen Zeit, die für das Komponieren blieb, nahm er die Arbeit an Jenůfa wieder auf. Als er Olga am 17. April 1902 schrieb, erhielt er aus St. Petersburg Nachricht, dass seine Tochter an Typhus erkrankt sei. Ihr Genesungsprozess fand in einer Serie von Telegrammen und Briefen seinen Niederschlag, die ihr Onkel František nach Brünn schickte und schließlich begann Olga selbst zu schreiben. Eine Zeitlang schien die Genesung angemessene, wenn auch langsame Fortschritte zu machen, aber nach einem Rückfall fuhr ihre Mutter sofort nach St. Petersburg, um bei der Pflege ihrer Tochter zu helfen. Sie reiste am 11. Juni ab und ließ ihren Mann zurück, um den sich Marie Stejskalová kümmern sollte. In einem Brief an Olga und ihre Mutter in St. Petersburg, datiert nur mit „Sonntag, 6.00 morgens", wahrscheinlich am 22. Juni 1902 geschrieben, berichtete Janáček: „Und so machte ich mich wieder an die Arbeit – bis ich den 2. Akt fertig hatte! Zumindest die
Ferien werden angenehmer für uns werden." Der 2. Akt scheint demnach, abgesehen von den vorangegangenen Entwürfen aus den Jahren 1894-1895, zwischen Ende 1901 und Frühsommer 1902 geschrieben worden zu sein und wurde im Klavierauszug von Štross bis zum 8. Juli 1902 hergestellt (anscheinend nach Beendigung der Partitur).
Bald jedoch kamen weitere beunruhigende Nachrichten aus St. Petersburg, wie aus einem Brief Janáčeks zu entnehmen ist. Das Schreiben ist nicht datiert, wurde aber wahrscheinlich am Montag, den 7. Juli, verfasst, einige Tage vor Ende des Schuljahres und knapp vor Abreise Janáčeks nach Hukvaldy, wo er gewöhnlich die Sommerferien mit seiner Familie verbrachte.
Liebe Olguška,
ich bin niedergeschmettert durch die erneut traurigen Nachrichten über das Fieber. Frage den Arzt, ob man Dir nicht erlaubt, auch in krankem Zustand zu reisen. Vielleicht würde eine Luftveränderung sogleich die Wiederkehr des Fiebers verhindern. Die Reise wäre nicht so schlimm – Du könntest ja liegen. Ich würde kommen, um Dich zu holen.
Dein bekümmerter Vater
Unter diesen Umständen komponierte Janáček den 3. Akt von Jenůfa. Anstatt die Zeit mit seiner rekonvaleszenten Tochter zu verbringen, wie er gehofft hatte, verbrachte er die erste Hälfte der Ferien damit, auf weitere Nachricht aus St. Petersburg zu warten. Währenddessen setzte er einfach mit dem nächsten Akt fort, ganz im Gegensatz zu seiner späteren Arbeitsweise mit intensiven Schaffensperioden und dazwischen liegenden, langen Pausen der Reflexion. Er arbeitete intensiver als je zuvor an einer einzigen Komposition. Ende Juli wurde Olga endlich für soweit genesen gehalten, um reisen zu dürfen, und beendete unter großen Schwierigkeiten ihre Reise nach Hukvaldy. Mitte September kehrte Janáček nach Brünn zurück, um zu lehren, und etwas später folgten ihm Olga und seine Frau Zdenka. Die Sommerfrische in Hukvaldy hatte nicht die erhoffte Wunderheilung bewirkt, und als der Winter kam, verschlechterte sich Olgas Zustand weiter. In der Weihnachtszeit erkannte Olga selbst, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte. Sie begann, von Freunden und der Familie Abschied zu nehmen. Gleich nach Weihnachten flüchtete Janáček nach Hukvaldy, um der morbiden Atmosphäre zu entkommen, und wahrscheinlich auch, um ohne Ablenkungen an den letzten Takten seiner Oper zu arbeiten, die er, wenn die Datierung des Klavierauszuges stimmt, am 25. Januar 1903 beendete. Am Sonntag, dem 22. Februar 1903, erhielt Olga die letzte Ölung. An diesem Nachmittag, erzählte Frau Janačková,
saßen wir alle bei ihr. Mein Mann hatte gerade Jenůfa beendet. Während der ganzen Zeit, die er daran gearbeitet hatte, hatte Olga regen Anteil daran genommen. Und mein Mann pflegte auch später zu sagen, dass seine kranke Tochter das Modell für Jenůfa war. Nun bat ihn Olga: „Vater, spiel Jenůfa für mich, ich werde nicht mehr so lange leben, um sie noch hören zu können." Leoš setzte sich ans Klavier und spielte ... Ich konnte es nicht ertragen und lief wieder in die Küche.
Vier Tage später starb Olga. Janáček feilte weiter an seiner Oper, setzte aber schließlich ein Datum an das Ende des Theaterstückes:
18. März 1903, die dritte Woche nach dem schrecklichen Todeskampf meiner armen Olga. Vollendet.
Das Werk wurde ihr gewidmet und als sie begraben wurde, legte er eine Seite seines Manuskriptes in ihren Sarg. 20 Jahre später schrieb Janáček in seinen Memoiren:
Ich würde Jenůfa einfach mit dem schwarzen Band der langen Krankheit, des Leidens und des Trauerns um meine Tochter Olga und meinen kleinen Jungen Vladimir binden.