

Dimos Stephanidis
Klaviersonate Nr.5
Dauer: 22'
Solisten:
piano
Klaviersonate Nr.5
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Werkeinführung
Im Jahr 2022, als der Krieg in der Ukraine begann, war das erste Bild, das ich sah, das eines Kindes. Das Gesicht des Kindes war verstümmelt, weil es von einer Art Kugel getroffen worden war. Zuerst dachte ich, es sei ein Junge, aber einige Tage später sah ich ein älteres Foto des Kindes und erkannte, dass es ein Mädchen war. Der Schock war in der Tat gewaltig, und das erste Bild blieb mir im Gedächtnis. Also begann ich, etwas Musikalisches über dieses Bild zu schreiben, aber es war katastrophal schlecht und unrealistisch in Bezug auf das Bild. Es gab viele Versuche in den Jahren 2022 und 2023, aber sie reichten alle nicht annähernd aus, um das Bild zu drucken, das sich in der Zwischenzeit in meinem Kopf festgesetzt hatte. Ich fragte mich, warum ich die Gefühle eines Bildes, das zu einem Teil meines Lebens geworden war, nicht musikalisch ausdrücken konnte und was dieses Bild eigentlich für mich bedeutete. Die Erkenntnis war hart. Ich sitze in einer warmen Stube, lebe in Frieden, habe zu essen und zu trinken und will ein Stück über Krieg und Frieden schreiben? Und mit Kontrollen und Korrekturen? Was will ich kontrollieren und korrigieren? Das geht nicht, das wäre eine Lüge und es wäre auch eine Verhöhnung. Ich habe mir mein Wohnviertel angeschaut und mich gefragt: Wie ist es, wenn dort plötzlich eine Bombe explodiert, wie ist es dann plötzlich ein paar Meter weiter und wieder und wieder. Wie ist es, wenn es kein Wasser und kein Essen gibt, wie ist es, wenn das Krankenhaus die Verletzten nicht versorgen kann, weil es bombardiert wurde? Diese Fragen tauchten jeden Tag auf, bis ich im Februar 2024 mit der Komposition der fünften Klaviersonate begann. Und während der Komposition wurde mir auch klar, was das Bild des verstümmelten Kindes für mich bedeutet. Dieses Kind war die Personifizierung des Friedens. Übrigens habe ich dieses Stück durchkomponiert. Ohne Korrekturen, ohne an die Form oder sonst etwas zu denken und ohne Klavier. Das Werk ist nicht politisch. Es geht einfach um das Bild eines Kindes. Nachdem ich die Komposition beendet hatte, stellte sich mir folgende Frage: Muss man all diese psychologischen Belastungen auf sich nehmen, um eine Sonate zu schreiben? Die Antwort auf diese Frage ist für mich klar: Ja!