

Jay Schwartz
Theta
(2023)
für Orchester
Kurz-Instrumentierung: 3 3 3 3 - 4 4 3 1 - Pk, Schl, Hf, Str(18, 16, 14, 12, 10 Spieler)
Dauer: 15'
Widmung: for Teo
Instrumentierungsdetails:
1. Flöte
2. Flöte
3. Flöte
1. Oboe
2. Oboe
3. Oboe
1. Klarinette in B
2. Klarinette in B
3. Klarinette in B (+Bkl(B))
1. Fagott
2 . Fagott
Kontrafagott
1. Horn in F
2. Horn in F
3. Horn in F
4. Horn in F
1. Trompete in B
2. Trompete in B
3. Trompete in B
4. Trompete in B
1. Posaune
2. Posaune
3. Posaune
Tuba
Pauken
Schlagzeug
Harfe
Violine I (18 Spieler)
Violine II (16 Spieler)
Viola (14 Spieler)
Violoncello (12 Spieler)
Kontrabass (10 Spieler)
Theta
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Werkeinführung
Theta θ ist der achte Buchstabe des griechischen Alphabets und entspricht dem lateinischen Buchstaben „T“. (Die Komposition ist die achte in der Serie Music for Orchestra und Teodor Currentzis gewidmet.)
In der Geometrie ist Theta θ das Symbol für die Berechnung eines Winkels. (Die Komposition verwendet zahlreiche Winkelberechnungen von aufsteigenden Linien; musikalisch umgesetzt sind das Glissandi in Shepard-Skalen-Bewegungen.) 1
Theta θ als Zeichen aus dem griechischen Alphabet symbolisiert den Tod. 2
Das gesamte Schaffen Mahlers scheint von einer Faszination mit dem Tod, sogar mit des Todessehnsucht, geprägt zu sein. Im Sommer 1910, berichtete Alma Mahler, waren die einzigen Partituren in Mahlers Komponierhäuschen in seiner Sommerresidenz in Toblach die aus seiner Gesamtausgabe der Musik Johann Sebastian Bachs. Besonders bemerkenswert dabei und offensichtlich Mahler ständig zur Hand waren die Kantaten wie „Komm du süße Todesstunde“ (BWV 161), „Schlag doch, gewünschte Stunde“ (BWV 53), „Liebster Gott, wann werd ich sterben“ (BWV 8) oder „Wer weiß, wie nah mir mein Ende?“ (BWV 27). August 1910. Gustav Mahler ist in Toblach und arbeitet an der 10. Sinfonie. Seine Ehe ist in der Krise. Er legt einen Brief mit folgendem selbst verfassten Gedicht an Almas Nachttisch:
Du süsse Hand, die mich gebunden!
O holdes Band, das ich gefunden!
Mit Wollust fühl’ ich mich gefangen
Und ewge Sklaverei ist mein Verlangen!
O wonniger Tod in schmerzenvollsten Stunden!
O Leben – sprieße auf aus meinen Wunden!
Toblach, 17 August 19103
Theta für Orchester klingt weniger konkret an die Partitur von Mahlers Zehnter an, sondern horcht vielmehr einem Urton der Todessehnsucht Mahlers nach.
„Komm, süßer Tod“ des von Mahler verehrten Komponisten Johann Sebastian Bach scheint genau diese Todessehnsucht pointiert zu vertonen.
Komm, süßer Tod, komm, selge Ruh!
Komm, führe mich in Friede,
weil ich der Welt bin müde,
ach komm, ich wart auf dich,
komm bald und führe mich,
drück mir die Augen zu.
Komm, selge Ruh! 4
Das geistliche Lied für Solostimme und bezifferten Bass wird in Theta im Zuge einer stellenweise Mahleresque anmutenden überdrehten Opulenz transformiert, in der Gestalt eines Palindroms symmetrisch gespiegelt (wie es sowohl bei Bach als auch bei Mahler in spezifischer Weise immer wieder begegnet) 5 und zeitlich bis zur Unkenntlichkeit ausgedehnt.
Die melodischen Umrisse des Liedes werden durch Glissandi – stufenloses Gleiten zwischen den Tönen – verwischt und verzerrt. Das Pietistische des Liedes wird in einen hedonistischen Totentanz verwandelt und verfremdet: „Komm, süßer Tod!“ nicht als stilles Gebet sondern als archaischer Urschrei.
Das Lied „Komm, süßer Tod“ verwendet eine absteigende melodische Linie in der Oberstimme, die mit der Figur eines Lamento-Basses des barocken Klagelieds identisch ist. Die Todessehnsucht von Gustav Mahler höre ich als letztes Klagelied der Spätromantik, am Vorabend des großen Umbruchs in die Moderne: der „Tod“ als Symbol für eine Katharsis am Anbruch einer neuen Welt. Heute, hundert Jahre später, begreife ich „Komm, süßer Tod“ aufs Neue als Aufruf zu einem Umbruch in eine neue Zeit.
---
Ich stelle mir eine Musik vor, die befreit ist von der tausend Jahre alten sprachbasierten Rhetorik der Motive, Gesten und Phrasen, der Flexion und Grammatik. Ich stelle mir eine Musik vor, befreit vom tausend Jahre alten System der festen Tonhöhen, die die Oktave in eine konkrete Zahl von Tönen einteilen und Skalen verschiedener Quantitäten von Tonhöhen kreieren.
Mein Werk scheint die archetypischen Muster einer sprach- und tonhöhenbasierten Musik vermieden zu haben oder ist, aus welchem Grunde auch immer, außer Stande, dieses Modell zu reproduzieren.
Wenn man die europäische Kunstmusik dem Wandeln in einem Englischen Garten vergleichen wollte, wo man bei jedem Schritt mit zahllosen sinnlichen Impressionen und einer Fülle von Farben, Motiven und Düften ergötzt wird, dann scheint sich meine Vorstellung von Musik eher dem Bild eines Fluges über eine unendliche Weite anzunähern, eine Musik frei von rhetorischen Gesten und den Zwängen fester Tonhöhen, eine Musik aus Glissandi und gleitenden Tönen, die unendliche und beständig wechselnde mikrotonale Tonhöhen und Intervalle hervorbringt. Gleitende Töne im Slow-Motion-Modus, wie sie mich unendlich berauschen, verzichten auf eine sprachbasierte Rhetorik und auf Skalensysteme. Ähnlich dem Doppler Effekt (jenem akustischen Phänomen eines durch eine sich bewegende Schallquelle hervorgerufenen gleitenden Tons) scheinen die Glissandi in der Lage, beim Hörer auf einer instinktiven Ebene Assoziationen von Räumlichkeit und damit die Illusion eines im Raum wandelnden Klangs zu erwecken. Die weite Szenerie des Fluges verändert sich langsam, aber kontinuierlich und organisch, von der Wüste zu den Bergen und schließlich zum Ozean.
Diese Metaphorik bezeichnet keineswegs ein Programm, und meiner Musik geht es nicht darum, eine außerhalb ihrer selbst liegende Erzählung zu vermitteln. Offen aber ist, inwieweit die prägenden Jahre meiner Kindheit und Jugend am Pazifik und in der Wüste in unterbewusster Weise Einfluss auf meine musikalische Ästhetik genommen haben. (Jay Schwartz)
1 „Die Shepard-Skala oder Shepard-Tonleiter…ist die Illusion einer unendlich ansteigenden oder abfallenden Tonleiter, die niemals die Grenze des eigenen Hörens übersteigt…Diese akustische Täuschung ist vergleichbar mit der optischen Täuschung bei einer Barber-Pole-Illusion, die sich je nach Drehrichtung scheinbar ewig nach unten oder oben bewegt.“ Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Shepard-Skala
2 „Das Theta nigrum (lateinisch für schwarzes Theta) ist ein in griechischen und lateinischen Texten und Inschriften verwendetes Todessymbol. Es besteht aus einem Kreis, der mittig von einer waagerechten Linie durchkreuzt wird, und ähnelt damit der Majuskel Θ (Theta) des griechischen Alphabets. In griechischen Texten wird es als Abkürzung für griechisch θάνατος (thanatos, „Tod“) aufgefasst, in lateinischen Texten als Abkürzung von lateinisch obiit „starb“ gelesen.“ Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Theta_nigrum
3 Ein Glück ohne Ruh'. Die Briefe Gustav Mahlers an Alma. Erste Gesamtausgabe, hg. und erl. von Henry-Louis de La Grange u. Günther Weiß, Berlin 1995 (Nr. 329).
4 Komm, süßer Tod ist ein geistliches Lied für Solostimme und bezifferten Bass von Johann Sebastian Bach. Den zugrundeliegenden fünfstrophigen Text dichtete ein unbekannter Verfasser um 1724. Bach komponierte das Lied (BWV 478) für das 1736 in Leipzig erschienene Musicalische Gesang-Buch Georg Christian Schemellis. Dort hat es die Nummer 868, in der Neuen Bach-Ausgabe (NBA) die Nummer 59.
5 “The significance of the palindrome involves the structural device of symmetry, one of the three key elements in rhetoric, as developed by the Greeks, that also includes repetition and contrast that are significant, and intentional, especially as highly developed in the music of Bach and Mahler.“ William Hoffman, „Bach and Mahler“, 2012 https://www.bach-cantatas.com/Articles/Bach-Mahler.pdf
In der Geometrie ist Theta θ das Symbol für die Berechnung eines Winkels. (Die Komposition verwendet zahlreiche Winkelberechnungen von aufsteigenden Linien; musikalisch umgesetzt sind das Glissandi in Shepard-Skalen-Bewegungen.) 1
Theta θ als Zeichen aus dem griechischen Alphabet symbolisiert den Tod. 2
Das gesamte Schaffen Mahlers scheint von einer Faszination mit dem Tod, sogar mit des Todessehnsucht, geprägt zu sein. Im Sommer 1910, berichtete Alma Mahler, waren die einzigen Partituren in Mahlers Komponierhäuschen in seiner Sommerresidenz in Toblach die aus seiner Gesamtausgabe der Musik Johann Sebastian Bachs. Besonders bemerkenswert dabei und offensichtlich Mahler ständig zur Hand waren die Kantaten wie „Komm du süße Todesstunde“ (BWV 161), „Schlag doch, gewünschte Stunde“ (BWV 53), „Liebster Gott, wann werd ich sterben“ (BWV 8) oder „Wer weiß, wie nah mir mein Ende?“ (BWV 27). August 1910. Gustav Mahler ist in Toblach und arbeitet an der 10. Sinfonie. Seine Ehe ist in der Krise. Er legt einen Brief mit folgendem selbst verfassten Gedicht an Almas Nachttisch:
Du süsse Hand, die mich gebunden!
O holdes Band, das ich gefunden!
Mit Wollust fühl’ ich mich gefangen
Und ewge Sklaverei ist mein Verlangen!
O wonniger Tod in schmerzenvollsten Stunden!
O Leben – sprieße auf aus meinen Wunden!
Toblach, 17 August 19103
Theta für Orchester klingt weniger konkret an die Partitur von Mahlers Zehnter an, sondern horcht vielmehr einem Urton der Todessehnsucht Mahlers nach.
„Komm, süßer Tod“ des von Mahler verehrten Komponisten Johann Sebastian Bach scheint genau diese Todessehnsucht pointiert zu vertonen.
Komm, süßer Tod, komm, selge Ruh!
Komm, führe mich in Friede,
weil ich der Welt bin müde,
ach komm, ich wart auf dich,
komm bald und führe mich,
drück mir die Augen zu.
Komm, selge Ruh! 4
Das geistliche Lied für Solostimme und bezifferten Bass wird in Theta im Zuge einer stellenweise Mahleresque anmutenden überdrehten Opulenz transformiert, in der Gestalt eines Palindroms symmetrisch gespiegelt (wie es sowohl bei Bach als auch bei Mahler in spezifischer Weise immer wieder begegnet) 5 und zeitlich bis zur Unkenntlichkeit ausgedehnt.
Die melodischen Umrisse des Liedes werden durch Glissandi – stufenloses Gleiten zwischen den Tönen – verwischt und verzerrt. Das Pietistische des Liedes wird in einen hedonistischen Totentanz verwandelt und verfremdet: „Komm, süßer Tod!“ nicht als stilles Gebet sondern als archaischer Urschrei.
Das Lied „Komm, süßer Tod“ verwendet eine absteigende melodische Linie in der Oberstimme, die mit der Figur eines Lamento-Basses des barocken Klagelieds identisch ist. Die Todessehnsucht von Gustav Mahler höre ich als letztes Klagelied der Spätromantik, am Vorabend des großen Umbruchs in die Moderne: der „Tod“ als Symbol für eine Katharsis am Anbruch einer neuen Welt. Heute, hundert Jahre später, begreife ich „Komm, süßer Tod“ aufs Neue als Aufruf zu einem Umbruch in eine neue Zeit.
---
Ich stelle mir eine Musik vor, die befreit ist von der tausend Jahre alten sprachbasierten Rhetorik der Motive, Gesten und Phrasen, der Flexion und Grammatik. Ich stelle mir eine Musik vor, befreit vom tausend Jahre alten System der festen Tonhöhen, die die Oktave in eine konkrete Zahl von Tönen einteilen und Skalen verschiedener Quantitäten von Tonhöhen kreieren.
Mein Werk scheint die archetypischen Muster einer sprach- und tonhöhenbasierten Musik vermieden zu haben oder ist, aus welchem Grunde auch immer, außer Stande, dieses Modell zu reproduzieren.
Wenn man die europäische Kunstmusik dem Wandeln in einem Englischen Garten vergleichen wollte, wo man bei jedem Schritt mit zahllosen sinnlichen Impressionen und einer Fülle von Farben, Motiven und Düften ergötzt wird, dann scheint sich meine Vorstellung von Musik eher dem Bild eines Fluges über eine unendliche Weite anzunähern, eine Musik frei von rhetorischen Gesten und den Zwängen fester Tonhöhen, eine Musik aus Glissandi und gleitenden Tönen, die unendliche und beständig wechselnde mikrotonale Tonhöhen und Intervalle hervorbringt. Gleitende Töne im Slow-Motion-Modus, wie sie mich unendlich berauschen, verzichten auf eine sprachbasierte Rhetorik und auf Skalensysteme. Ähnlich dem Doppler Effekt (jenem akustischen Phänomen eines durch eine sich bewegende Schallquelle hervorgerufenen gleitenden Tons) scheinen die Glissandi in der Lage, beim Hörer auf einer instinktiven Ebene Assoziationen von Räumlichkeit und damit die Illusion eines im Raum wandelnden Klangs zu erwecken. Die weite Szenerie des Fluges verändert sich langsam, aber kontinuierlich und organisch, von der Wüste zu den Bergen und schließlich zum Ozean.
Diese Metaphorik bezeichnet keineswegs ein Programm, und meiner Musik geht es nicht darum, eine außerhalb ihrer selbst liegende Erzählung zu vermitteln. Offen aber ist, inwieweit die prägenden Jahre meiner Kindheit und Jugend am Pazifik und in der Wüste in unterbewusster Weise Einfluss auf meine musikalische Ästhetik genommen haben. (Jay Schwartz)
1 „Die Shepard-Skala oder Shepard-Tonleiter…ist die Illusion einer unendlich ansteigenden oder abfallenden Tonleiter, die niemals die Grenze des eigenen Hörens übersteigt…Diese akustische Täuschung ist vergleichbar mit der optischen Täuschung bei einer Barber-Pole-Illusion, die sich je nach Drehrichtung scheinbar ewig nach unten oder oben bewegt.“ Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Shepard-Skala
2 „Das Theta nigrum (lateinisch für schwarzes Theta) ist ein in griechischen und lateinischen Texten und Inschriften verwendetes Todessymbol. Es besteht aus einem Kreis, der mittig von einer waagerechten Linie durchkreuzt wird, und ähnelt damit der Majuskel Θ (Theta) des griechischen Alphabets. In griechischen Texten wird es als Abkürzung für griechisch θάνατος (thanatos, „Tod“) aufgefasst, in lateinischen Texten als Abkürzung von lateinisch obiit „starb“ gelesen.“ Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Theta_nigrum
3 Ein Glück ohne Ruh'. Die Briefe Gustav Mahlers an Alma. Erste Gesamtausgabe, hg. und erl. von Henry-Louis de La Grange u. Günther Weiß, Berlin 1995 (Nr. 329).
4 Komm, süßer Tod ist ein geistliches Lied für Solostimme und bezifferten Bass von Johann Sebastian Bach. Den zugrundeliegenden fünfstrophigen Text dichtete ein unbekannter Verfasser um 1724. Bach komponierte das Lied (BWV 478) für das 1736 in Leipzig erschienene Musicalische Gesang-Buch Georg Christian Schemellis. Dort hat es die Nummer 868, in der Neuen Bach-Ausgabe (NBA) die Nummer 59.
5 “The significance of the palindrome involves the structural device of symmetry, one of the three key elements in rhetoric, as developed by the Greeks, that also includes repetition and contrast that are significant, and intentional, especially as highly developed in the music of Bach and Mahler.“ William Hoffman, „Bach and Mahler“, 2012 https://www.bach-cantatas.com/Articles/Bach-Mahler.pdf