

Georg Friedrich Haas
„Ich suchte, aber ich fand ihn nicht.“
Kurz-Instrumentierung: 1 1 2 1 - 1 1 2 1 - Schl(2), Harm, Vl(2), Va, Vc, Kb
Dauer: 25'
Instrumentierungsdetails:
Flöte
Oboe
Klarinette in A
Bassklarinette in B
Kontraforte (+Fg)
Horn in F
Trompete in C
1. Posaune
2. Posaune
Tuba
1. Schlagzeug
2. Schlagzeug
Harmonium
1. Violine
2. Violine
Viola
Violoncello
Kontrabass
Haas - „Ich suchte, aber ich fand ihn nicht.“ für Ensemble
Gedruckt/Digital
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Georg Friedrich Haas
Haas: "Ich suchte, aber ich fand ihn nicht."Instrumentierung: für Ensemble
Ausgabeart: Dirigierpartitur

Georg Friedrich Haas
Haas: "Ich suchte, aber ich fand ihn nicht."Instrumentierung: für Ensemble
Ausgabeart: Studienpartitur (Sonderanfertigung)
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Werkeinführung
„Ich suchte, aber ich fand ihn nicht." Im dritten Kapitel des Hoheliedes verlangt einer Frau nach ihrem Geliebten. „Des Nachts auf meinem Lager suchte ich, den meine Seele liebt. Ich suchte; aber ich fand ihn nicht. Ich will aufstehen und in der Stadt umgehen auf den Gassen und Straßen und suchen, den meine Seele liebt. Ich suchte; aber ich fand ihn nicht.“ Man hat das Hohelied als erotisches Gedicht gedeutet, als Liebesgeschichte, in die Salomon seine eigene unglückliche Liebe zur Magd eines Schafhirten einfließen lässt. Andere wiederum halten das Hohelied für ein Gleichnis. Der Geliebte ist Christus, der sich mit seiner Versammlung vermählt. Der Geliebte ist Gott, der sich mit der Gemeinde der Gläubigen vereinigt.
In der Oper Die schöne Wunde (2001/03) hat Georg Friedrich Haas diese Zeile in einem der vielen Zwischenbilder verwendet. Protagonist der Oper spielt eine Doppelrolle: Kafkas Albtraum-gepeinigten Landarzt und Poes Inquisitionsopfer aus Die Grube und das Pendel. Diesen Geschichten des Schreckens stellt Haas Sehnsuchtsorte gegenüber, als „Situation eines Menschen, der dieses Glücksbedürfnis in der Liebe sucht“ (Haas) bzw. als „erotische Utopien“ (Daniel Ender) mit Schlaglichtern auf Shakespeares Romeo und Julia, ein erotisches Gedicht von Pietro Aretino oder eben jenen Satz aus dem dritten Kapitel des Hoheliedes.
Wenn die Zeile „Ich suchte, aber ich fand ihn nicht“ jetzt Ausgangspunkt eines großen Ensemblestücks wird, ist es einerseits wichtig, auf die acht Jahre zuvor entstandene Oper zurückzublicken, ist es andererseits unabdingbar, auf die Unterschiede im Umgang mit der Textzeile aufmerksam zu machen. In Die schöne Wunde wurde das Hohelied als Chiffre des Begehrens zitiert. Der Landarzt und das Inquisitionsopfer drohen an der Realität zugrunde zu gehen und richten ihre Hoffnung auf diese Traumbilder. In dem Ensemblestück „Ich suchte, aber ich fand ihn nicht.“ wird der Satz in einen weitläufigeren, weniger konkreten Zusammenhang gestellt. Das Erotische ist nur noch eine von vielen möglichen und unter diesen sogar eine relativ unwichtige Zuschreibung.
Jemand der betet, sucht Gott. Jemand der komponiert, sucht Inspiration. Haas weitet den Deutungsraum des salomonischen Nichtfindens; die Szene aus dem Hohelied wird bei ihm zu einem Gleichnis für das Suchen schlechthin. Einem Suchen, dem gleichwohl immer auch eine Spiritualität eingeschrieben ist, sofern das Gesuchte auch Gegeben werden muss.
Haas, der im katholischen Österreich im protestantischen Glauben erzogen wurde, hat den christlichen Glauben abgelegt. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb spielt die Geschichte des Uraufführungsortes, der Münchner Jesuitenkirche St. Michael hierbei eine Rolle. Haas wollte nicht darauf verzichten, auf die Rolle der Michaelskirche bei der Gegenreformation hinzuweisen, als einen Ort, von dem im 16. Jahrhundert Gewalt und Terror ausging und an dem man Gott offenbar nicht hat finden können. Auch deshalb steht die Bibelstelle über das enttäuschte Suchen im Mittelpunkt des Werks.
Schließlich ist noch auf die Zugehörigkeit des Suchenden hinzuweisen. Die, die da sucht und nicht findet, ist allein. Wer, wenn ich schriee, hörte mich ... hieß ein Stück, dass Haas 1999 mit Blick auf den Krieg im Kosovo komponierte. Auch dieser Titel, eine Zeile aus den Duineser Elegenien von Rainer Maria Rilke, ist aus der Einsamkeit heraus gedacht. Gleichzeitig hat Haas mit dem Ensemble-Projekt „... Einklang freier Wesen ..." und „... aus freier Lust ... verbunden ..." (1994-96) den Versuch unternommen, die Utopie einer freien Gemeinschaft musikalisch zu realisieren. Die 10 Solostücke mit dem jeweiligen Titel “..aus freier Lust ... verbunden ...“ können gleichzeitig gespielt werden – dann erklingt das Ensemblestück „Einklang freier Wesen". Außerdem können bestimmte kammermusikalische Besetzungen aus dem Werk gebildet werden: ein Duo, verschiedene Trios, ein Quartett, ein Septett. Die, in diesem Falle auf Hölderlins Hyperion zurückgehenden Titel, deuten an, dass sich der Mensch durchaus finden kann, ohne seine Freiheit preiszugeben, eine Bindung, die in Tönen natürlich ungleich leichter zu realisieren ist, als in der Wirklichkeit. Die Frage nach der Position des Menschen in der Welt aber hat in vielen Werken von Haas seine Spuren hinterlassen.
In seinem Ensemblestück „Ich suchte, aber ich fand ihn nicht." geht es nicht so sehr um die Einsamkeit, sondern um Hoffnung, Versprechen und Begehren. Wollte man das Stück auf ein einziges Prinzip herunter brechen, dann könnte man sagen, Haas setzt Prozesse in Gang, die unerfüllt bleiben. Es ist also ein fortwährendes Enttäuschen, das Haas mit „Ich suchte, aber ich fand ihn nicht." komponiert. Dabei ist klar, dass eine Musik der Enttäuschungen keine enttäuschende Musik sein muss. Vielmehr geht es um eine ästhetische Position, bei der Fragen gestellt werden wie: Was erwarten wir, wenn wir Musik hören? Wovon lassen wir uns beim Hören leiten? Was wäre ein erfüllter Augenblick in der Musik? Wie reagiere ich auf Unerwartetes? Es ist also durchaus eine Ästhetik des Fehlerhaften, des Brüchigen und der Instabilität, der Haas hier nachgeht.
Nun hat Haas die enttäuschte Erwartung nicht eins zu eins ins Werk gesetzt. Es gibt in dieser Musik keine platten Pointen, keine falschen Kadenzen oder unerhoffte Paukenschläge. Stattdessen habe er sich beim Komponieren ganz assoziativ vom Ideenhorizont des Stückes leiten lassen. Er habe versucht, von Moment zu Moment eine Spannung aufzubauen, die dann aber im Nichts verläuft; er habe musikalische Prozesse eingeleitet, die sich nicht ein-, sondern auflösen. Die allmähliche Verschiebung der Tonhöhe in Vierteltonschritten gleich zu Beginn des Stückes beschreibt Haas zum Bespiel als ein grob gerastertes Glissando, als habe würde man ein pixeliges Bild mit zu niedriger Auflösung betrachten. Der Tonhöhenverlauf gleitet nicht, sondern schreitet eher ruckartig in Vierteltonschritten (also in einem – so Haas – verhältnismäßig grobmaschigen Tonhöhennetz) voran. Erst im weiteren Verlauf des Stückes wird die Auflösung zwischen den Tonhöhen feiner; von der Vierteltönigkeit des Anfangs über die Sechsteltönigkeit bis hin zum vollständigen Glissando wird der Tonraum auf verschiedene Weise durchschritten.
Fragt man Haas, wie das Stück gebaut sei, zitiert er Alois Hába, den tschechischen Komponisten, der Haas als Pionier der Mikrotonalität besonders nahe steht. Hába habe stets erklärt, Form entstehe bei ihm wie eine Wanderung durch Wald und Wiesen. Auch sein Formschema, erklärt Haas, heiße im Prinzip A-B-C-D-E etc. Dabei ist die Vorstellung einer zwar spontanen und intuitiven entstehenden Form, die aber Schritt um Schritt erwandert wird, durchaus zwingend. Denn indem Haas in „Ich suchte, aber ich fand ihn nicht." immer wieder einen Prozess einleitet, also eine bestimmte Richtung einschlägt, entwickelt sich die Form tatsächlich landschaftsgleich, auch indem sie sich allmählich verändert und der Perspektive nach verschiebt. Die komponierten Enttäuschungen und die Auflösung der musikalischen Prozesse kann man dann als Richtungswechsel verstehen, als ändere jemand im Gehen die Richtung und damit auch das Blickfeld.
Ganz wesentlich für das Verständnis des Haas’schen Opus ist auch seine Beschäftigung mit Mikrointervallen, mit Intervallen also, die kleiner sind als der übliche Halbton. Systematisch, ja akribisch und ausgesprochen innovativ hat er das Tonsystem in der Vergangenheit verwendet, bis hin zum Zwölfteltoncluster mit sechs Konzertflügeln und Orchester, einem geradezu unwirklichen Klang, den er 2010 in seinem Stück limited approximations realisierte. Auch in „Ich suchte, aber ich fand ihn nicht." spielen Mikrointervalle in verschiedenen Auflösungsgraden eine wichtige Rolle. Die allmähliche Verschiebung der Tonhöhe, die meist schrittweise vollzogen wird und die von einer rhythmischen Überlagerung der Stimmen durchdrungen ist, hat eine Klangarchitektur zur Folge, die sich vielleicht am Besten mit einem Stoff oder einem Gewebe vergleichen lässt. Dabei arbeitet Haas von Fall zu Fall sowohl mit einer arithmetischen Unterteilung des Tonraums in Viertel- oder Sechsteltöne, als auch mit reinen Intervallen, also mit nicht temperierten Tönen, die sich aus dem Obertonspektrum eines Tons ableiten.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Instrumentierung. Denn Haas gruppiert jeweils unterschiedliche Instrumente, mal der Klangfarbe oder dem Register nach, mal über diese Familienähnlichkeit hinweg. Gerade der Anfang mit Bassklarinette, Kontraforte (einer modernen Variante des Kontrafagotts), Posaune, Tuba, Harmonium und tiefen Streichern macht deutlich, wie variationsreich und farbig Haas das Ensemble gestaltet. Hinzu kommt die innovative Behandlung der Trichter in den Blechbläserstimmen, für die Haas ein eigenes Notationssystem erfand, das die Bewegungen der Trichter genau vorschreibt.
All diese Gestaltungsebenen tragen dazu bei, dass die Musik eine suchende Musik wird, dass das Spüren und Verlangen eine tönende Gestalt erhält. Die Suchende des Hoheliedes findet ihren Geliebten übrigens bald. Der Hörer der Musik von Georg Friedrich Haas wird hingegen etwas anderes finden, nämlich das Suchen selbst. Und das ist vielleicht genauso aufregend und beglückend wie eine liebevolle Umarmung.
© Björn Gottstein (aus dem Programmheft zur Uraufführung)