

Georg Friedrich Haas
Konzert
Kurz-Instrumentierung: 4 4 4 4 - 6 4 4 1 - Pk, Schl(3), Str(12 12 10 8 6)
Dauer: 30'
Widmung: Bálint András Varga gewidment
Solisten:
Violoncello
Instrumentierungsdetails:
1. Flöte (+Picc)
2. Flöte (+Picc)
3. Flöte
4. Flöte
1. Oboe
2. Oboe
3. Oboe
Englischhorn
1. Klarinette in B
2. Klarinette in B
3. kleine Klarinette in Es
4. Klarinette in B
1. Fagott
2. Fagott
3. Fagott
4. Fagott (+Kfg)
1. Horn in F
2. Horn in F
3. Horn in F
4. Horn in F
5. Horn in F
6. Horn in F
1. Trompete in C
2. Trompete in C
3. Trompete in C
4. Trompete in C
1. Posaune
2. Posaune
3. Posaune
4. Posaune
Tuba
Pauken
1. Schlagzeug
2. Schlagzeug
3. Schlagzeug
Violine I (12)
Violine II (12)
Viola (10)
Violoncello (8)
Kontrabass (6)
Haas - Konzert für Violoncello und Orchester
Gedruckt/Digital
Übersetzung, Abdrucke und mehr

Georg Friedrich Haas
Haas: Konzert für Violoncello und OrchesterInstrumentierung: für Violoncello und Orchester
Ausgabeart: Solostimme(n)

Georg Friedrich Haas
Haas: Konzert für Violoncello und OrchesterInstrumentierung: für Violoncello und Orchester
Ausgabeart: Studienpartitur (Sonderanfertigung)
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Hörbeispiel
Werkeinführung
Mit großer Konsequenz, Schritt für Schritt musikalisches Neuland betretend, hat sich Georg Friedrich Haas (geboren in Graz 1953) in den letzten Jahren zu einem der wichtigsten und spannendsten österreichischen Komponisten entwickelt. Immer schon hatte er sich für mikrotonale Tendenzen interessiert, schon in jungen Jahren versuchte er sich theoretisch wie auch interpretatorisch den Arbeiten zum Beispiel von Alois Hába zu nähern, dem großen Pionier auf dem Gebiet der Viertel-, Fünftel- oder gar Sechsteltonmusik. Mikrotonales Denken freilich hat sich in den letzten Jahrzehnten ganz unterschiedlichen Richtungen geöffnet. Die Musik auf der Basis unseres zwölftönigen Systems, dessen reihentechnische oder serielle Erfassung war zusehends an Grenzen gestoßen, die von postmodernen Kritikern der avantgardistischen Ansätze als letztliche Erschöpfung des Materials gesehen wurden: Es gebe nur noch das Zurück, die neue Sichtung alter Sprachmittel und diverse Arten ihrer Konfrontation.
Natürlich schafft eine differenziertere Unterteilung des Tonraums – etwa mit vierteltönigem Raster – keineswegs per se neue Qualität. Viele Komponisten aber hatten, aus ganz unterschiedlichen Richtungen kommend, neue musikalische Ideen, die im Rahmen der temperierten Chromatik nicht mehr darstellbar waren. Es waren Überlegungen von spektraler Klangfarbgestaltung (hier waren es die französischen Spektralisten, die ganz neue Hörweisen evozierten) ebenso wie etwa die Annäherung an außereuropäische Denkformen (zu verweisen wäre unter anderem auf Claude Vivier wie auch auf den kritischen Einspruch Klaus Hubers gegenüber der imperialen Ausbreitung unseres abendländischen Tonsysteme über den Erdball). Zugrunde liegt so etwas wie eine Renaturierung der Klänge, die von ihrer quasi digitalen Erfassung befreit werden. Die Erschütterung unseres sowohl vertikal (Harmonik, Melodik) als auch horizontal (Rhythmik, Metrik) über zahlenmäßiges Erfassen bestimmtes Musikbewusstsein ist wohl eine der aufregendsten Öffnungen hin auf neues Musikdenken. Die ersten Lautgebungen eines Kindes, aber auch all unsere emotionalen Ausrufe kennen solche Formen des Gemessenen nicht. Gemessen, die beiklingende Bedeutung dieses Wortes in der deutschen Sprache (gemessener Schritt, angemessenes Benehmen) deutet das an, meint Kontrolle des Tuns durch ein vom Verstand verwaltetes Regelwerk, lebendige Emotion, lebendige Erfahrung aber gehen weit darüber hinaus. Es waren so antagonistische Komponisten wie Harry Partch (der sein musikalisches Material aus dem Volk, aus Gesängen von Hitchhikern oder von Indianern ableitete) oder Giacinto Scelsi (mit seinen manischen Vertiefungen in den einzelnen Ton oder Klang), die solche Domestizierung für ihre Arbeit nicht mehr akzeptierten.
Aus diesem Umfeld stammen auch die musikalischen Überlegungen von Georg Friedrich Haas. Der Musikjournalist Reinhard Kager hat einmal über dessen Mikrotonalität (in Bezug auf des Ensemblestück In vain geschrieben: In diesem Werk kollidieren „aus Obertonreihen gebildete harmonische Strukturen mit Tritonus- oder Quart/Quint-Akkorden. Dadurch entstehen extreme mikrotonale Reibeflächen, die Haas immer wieder in kreisende Spiralformen münden lässt: Klangschleifen, die vorsichtig suchen, tasten und fühlen, aber nirgends zielgerichtet hinzuführen scheinen, wie die Endlostreppen auf den Graphiken von Maurits Cornelius Escher. Ein Hauch von Vergeblichkeit liegt in dieser Musik, die leise an die Unmöglichkeit gemahnt, den perfekten Zusammenklang, geschweige denn das harmonische Zusammenleben der Menschen je erreichen zu können. Kein Zweifel: Durch die Integration des Obertonspektrums hat die seit jeher auf Klangexperimente konzentrierte Musik von Haas ganz neue, noch eigenständiger Qualitäten gewonnen.“
Haas hat eine unverkennbare Liebe zur Unschärfe, zum lauernden Dunkel. Es gibt mehrere Stücke von ihm, die von den Spielern in völliger Finsternis zu realisieren sind (so zum Beispiel das 3. Streichquartett In iij. Noct, das 2002 in unterirdischen Gewölben der Südtiroler Franzensfeste aufgeführt wurde). Dadurch weicht die Metrik auf, Abstimmung über exakte Zeichengebung ist nicht möglich, es geht allein über das Hören. Ebenso verfährt er mit der Tonhöhenorganisation durch eingebaute Unschärfen. Was ihn daran vielleicht am meisten fasziniert ist die rational nicht zu erfassende Sogwirkung, die sich beim allein gelassenen Hören einstellt. Das war schon in seiner Hölderlinoper mit dem kennzeichnenden Titel Nacht so, noch drastischer wohl in der zwischen Angst und Faszination changierenden Poe/Kafka-Oper die schöne wunde, die 2003 in Bregenz szenisch uraufgeführt wurde. „Ich vertraue Klanganalysen ebenso wenig, wie ich Reihentabellen vertraue“, äußerte Haas einmal. Instanz ist die Unschärfe, die Wucht ihrer Erfahrung in all ihren nur vom Ohr geleiteten Spielformen.
Dem im Jahr 2003 geschriebenen Orchesterstück Natures mortes fügte Georg Friedrich Haas folgende Anmerkungen an:
Das musikalische Material des Orchesterstücks natures mortes basiert auf
- der Kombination unterschiedlicher Obertonakkorde (dabei entstehen Schwebungen, Reibungen, engstufige Intervallfortschreitungen
- rhythmischen Rastertechniken (beeinflusst durch die Bilder Roy Lichtensteins) wobei die Zeitstruktur der Rasterpunkte selbst ein Eigenleben entwickelt;
- dem Versuch, so etwas wie ‚cantabile’ (wieder)zuerfinden. (Ein Gedichtfragment Friedrich Hölderlins bricht ab mit den Worten: ‚singen möcht’ ich’.)“
Diese technischen wie assoziativen Bemerkungen können freilich nicht die unmittelbare Wirkung dieses vielleicht geradlinigsten Werkes von Haas veranschaulichen. Immer wieder hakt sich die Musik in sinnliche Eindrücke ein, hält sie fest, gestaltet sie. Das feine, mikrotonale Schwankungen auskostende Ohr lässt sich nicht mehr zwanghaft ein auf Attitüden des kritisch gebrochenen Klangs, sondern lebt sich aus, wagt beatartige Rasterrhythmen und klare Durchschaubarkeit der Disposition. Musik wächst in sinnlicher Direktheit, im ebenso sicheren, wie filigran durchgestalteten (Spektrum bis etwa zum 64. Oberton!) Zugriff. Die Fläche – der Tuttiklang ist gleichsam ihr Zentrum, er wird in verschiedensten Brechungen, Farbverdichtungen, Aussparungen oder polyphonen bzw. parallelklanglichen Bewegungen durchgestaltet – bleibt stets in pulsierender Bewegung. Eine über eine lange Strecke (großer Mittelteil des etwa 20-minütigen Stücks) pulsierend festgehaltene, gleichförmige Sechzehntel-Bewegung, die wie ein Auflösungsraster in einer Photographie wirkt, wird wie ein pointillistisches Bild behandelt (oder eben wie eines von Roy Lichtenstein). Durch differenzierte Addition oder Subtraktion einzelner Elemente ändern sich Farbe, Dichte, Härte oder auch die Nähe des Klangs. Unterstützt wird dieses Verfahren durch eine genaue Disposition von spektralen Farbnuancierungen über Obertöne. Es gibt also gleichsam Lichtbewegungen, Wanderungen vom Helleren ins Dunklere oder umgekehrt. Dieser Effekt wird im dritten Teil des Stücks, in dem das Sechzehntelraster verschwunden ist und lange gehaltenen Tönen Platz gemacht hat, noch maßgeblich ausgeweitet. So haben wir in den drei Abschnitten drei unterschiedliche Bewegungsformen von Klang: Zunächst auf der Basis von massiven, vorwiegend chromatischen Binnenbewegungen, die gleichsam wie Strudel in der Fläche wirken (1. Teil, Takte 1 bis 79), dann das gleichförmige Rastermodell (Takte 80 bis 297), schließlich die Fläche aus Liegeklängen mit spektralen Schattierungen (Takt 298 bis zum Schluss, Takt 433). Aus diesen Flächen, die also durch unterschiedliche Verfahren in permanenter Binnenbewegung gehalten werden, lösen sich, real oder virtuell, melodische Gestalten, die gewissermaßen „über den Wassern“ schweben. Es sind natürlich nicht Melodien im tradierten Sinne, es ist vielmehr die Ahnung von gesanglicher Bewegung, die aus der komplexen Verschränkung der in sich rotierenden Grundmuster entsteht. Die Plastik und Klarheit der Verfahrenstechniken stehen nicht im Widerspruch zum Rätselhaften, das uns aus natures mortes entgegen klingt (die Uraufführung fand am 19. Oktober 2003 im Rahmen der Donaueschinger Musiktage statt).
Die Partitur zum Konzert für Violoncello und großes Orchester wurde am 28. Mai 2004 abgeschlossen. In mehrerer Hinsicht werden hier die Erfahrungen des Orchesterwerks natures mortes weiterentwickelt und ausgebaut. Das von Hölderlin herkommende „singen möcht’ ich“ gewinnt durch die Einbeziehung des Soloinstruments freilich eine gesteigerte Bedeutung. So lassen sich, vor allem durch das Solocello eingebracht, durchaus motivische Beziehungsgeflechte im Werk ausmachen. Sie laufen schließlich im Schreker-Zitat „O Vater, dein trauriges Erbe“ (aus der Oper Der ferne Klang) zusammen, das gegen Ende der Komposition vom Cello angeführt (dreifaches forte!) und in Parallelführung durch die Streicher, Glocken, Glockenspiel und Marimba (piano und dreifaches piano) erklingt. Inhaltliche Bezüge der Komposition sind darin angedeutet und die Tonfolge Schrekers klingt in manchen davorliegenden Wendungen des Solocellos bereits an.
Wieder gibt es hier rhythmische Rasterbildungen, die Haas aber mitunter durch überlagerte Zeitebenen im Schlagwerk verunklärt (zum Beispiel werden Viertel in den Metronomzahlen 108, 112 und 116 übereinander gelegt, die Schlagzeuger richten sich nach individuell eingestellten Lichtmetronomen). Es sind solche zeitlichen oder mikrotonalen Unschärfen, die das sehr melodiöse, fast konventionelle Auftreten des Solisten nach einer massiven Orchestereinleitung unterminieren. Noch mehr Platz für seine Erscheinung als Solist beansprucht das Cello danach in einer groß ausgeführten Kadenz mit fast plakativer Außenwendung. Danach aber gewinnt der orchestrale Apparat die Oberhand und verdrängt den Solisten. Quintparallele Klänge in pulsierenden Rhythmen bis zur großen Tuttifläche sich ausweitend, beanspruchen den Raum. Das Solocello „mogelt“ sich in diese Klangfläche ein, beginnt unhörbar mit einem gehaltenen Ton und wartet gewissermaßen ab, bis die Fläche ihre innere Energie verbraucht hat. Wieder melodisiert es dann das Geschehen, das in eine zweite „Quasi“-Kadenz mündet. Hier spielt der Solist seinen tiefsten Ton, das C, extrem am Steg, wodurch eine Fülle von Obertönen entsteht. Es ist gleichsam eine negative Kadenz, das Orchester setzt nicht aus, sondern greift die entstehenden Obertöne auf, verdoppelt sie. Danach folgt das Schreker-Zitat und im Schlussabschnitt hat der Solist dann die mikrotonale Führung in ihren Unschärfen übernommen. Konzert wird also als Auseinandersetzung zwischen zwei Prinzipien verstanden: Masse und Individuum, melodische Klarheit, ja Expressivität und Unschärfe. Was bleibt ist ein Verklingen in extremen Lagen, die das C als Grundton mikrotonal verschwommen ahnen lassen.
Reinhard Schulzg